700 Missbrauchsopfer melden sich bei Aufarbeitungskommission

"Sprechen, ohne in Schockstarre zu fallen"

So etwas zu hören, tut weh: Auf der ersten öffentlichen Anhörung der Aufarbeitungskommission berichten zwei Frauen, wie der eigene Vater sie missbrauchte und wie sie an den Spätfolgen leiden.

Autor/in:
Birgit Wilke
Einsamer Teddybär / © Frank Rumpenhorst (dpa)
Einsamer Teddybär / © Frank Rumpenhorst ( dpa )

Sie werde die Bilder im Kopf einfach nicht los, erzählt Maria-Andrea Winter, Ende 50. Ihr Vater vergriff sich an ihr, als sie Kind war. Ihre Mutter wusste davon und schaute weg. In Therapien fragte sie der behandelnde Psychiater, wie sie denn ihre Schuld am Missbrauch einschätze. Trotzdem schaffte sie den Absprung, machte eine Ausbildung zur Mechanikerin, später zur Arbeitstherapeutin. Ihren eigenen beiden Kindern sei sie mit ihrem Trauma allerdings oft keine gute Mutter gewesen. Ihr habe es einfach immer an Leichtigkeit und Fröhlichkeit gefehlt.

Ähnlich ist es Sabrina Tophofen ergangen: Auch sie wurde von ihrem Vater, einem Alkoholiker, missbraucht, ihre Mutter gab ihr sogar eine Mitschuld dafür. Das Jugendamt kam zwar, griff aber nicht ein. "Wir waren eine Sinti-Familie, und sie dachten wohl, dass bei ihnen solche Vorfälle normal sind." Wie Winter floh sie, Mitte 30, von zu Hause - und landete in der Obdachlosigkeit. Inzwischen hat Tophofen über den zweiten Bildungsweg den Schulabschluss nachgeholt und zwei Bücher über ihr Schicksal geschrieben. Sie ist Mutter von fünf Kindern.

Aufarbeitungskommission zu sexuellem Kindesmissbrauch

Winter und Tophofen gehören zu den rund 700 Betroffenen, die sich in den vergangenen zwölf Monaten bei der Aufarbeitungskommission zum sexuellen Kindesmissbrauch gemeldet haben und die ihre Geschichte bei der ersten öffentlichen Anhörung der Kommission erzählen. Der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, hatte sich dafür stark gemacht, dass sie Anfang 2016 an den Start gehen konnte.

Vorsitzende des Gremiums ist die Frankfurter Sozialpädagogik-Professorin Sabine Andresen. Weitere Mitglieder sind die ehemalige Bundesfamilienministerin Christine Bergmann, der Rostocker Bildungshistoriker Jens Brachmann, der Hamburger Sexualforscher Peer Briken, die Honorarprofessorin an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen in Berlin, Barbara Kavemann, der Sozialpsychologe Heiner Keupp sowie die ehemalige Präsidentin des Frankfurter Oberlandesgerichts, Brigitte Tilmann.

Gesellschaftliches Bewusstsein schaffen

Andresen betont, dass die große Mehrheit der Betroffenen sexuelle Gewalt in Familien erlebt habe, vor allem durch den Vater. Anliegen der Kommission sei es auch, dafür einen gesellschaftliches Bewusstsein zu schaffen. Bisher habe die Aufklärung eher der sexuellen Gewalt in Internaten, Schulen oder kirchlichen Einrichtungen gegolten.

Betroffenen werde es schwer gemacht, Hilfe zu bekommen. Sie stießen in ihrer Familie und im gesellschaftlichen Umfeld oft auf Unverständnis, so Andresen. Häufig werde ihnen nicht geglaubt. Die Berliner Soziologin Kavemann betonte, die Betroffenen würden mitunter bezichtigt, die Familie zerstören zu wollen. Viele verlören ihre Familie auch.

Hohe Hürden für staatliche Unterstützung

Die beiden betroffenen Frauen können das bestätigen: Sie habe sich "zurückziehen müssen, um mein eigenes Leben zu leben", erzählt etwa Winter. Sie gründete eine Selbsthilfegruppe und half anderen Betroffenen. Wie Tophofen wurde sie auf der Suche nach Unterstützung immer wieder enttäuscht: Die Hürden für staatliche Unterstützung seien hoch, unter schwierigen Bedingungen müssten Opfer in Gerichtsverhandlungen aussagen und fühlten sich zur Schau gestellt, in Glaubwürdigkeitsgutachten reichten keine genauen Beschreibungen.

Sachbearbeiter bräuchten die Angabe der Tage, an denen der Missbrauch stattgefunden habe. Das überfordere Betroffene.

Tamara Luding, Mitglied im Betroffenenrat beim Missbrauchsbeauftragten, wirbt neben gesetzlichen Verbesserungen für "eine Gesprächskultur, die das Erzählen von Betroffenen zulässt, ohne in Schockstarre zu fallen". Schließlich sollten ja diejenigen, denen sich die Opfer anvertrauten, handeln. 

Viele solcher Erzählungen haben sich die Kommissionsmitglieder inzwischen angehört. Ein Ende ist nicht in Sicht. Und nach Ansicht des Gremiums werden die nächsten zwei Jahre, für die der Fortbestand gesichert ist, nicht reichen, um das Thema sexueller Missbrauch in Deutschland aufzuarbeiten.


Quelle:
KNA