Tafeln müssen immer mehr leisten

Anstieg der Armut

Die Tafeln in Deutschland sind Anlaufstelle für Menschen in Not. Mit der Flüchtlingswelle suchten immer mehr Bedürftige die Ausgabestellen auf - zum Ärger mancher "Stammgäste". Jetzt entspannt es sich aber wieder, sagt Tafel-Chef Brühl

Tafel-Bewegung in Deutschland: 15,6 Millionen Menschen sind von Armut betroffen (dpa)
Tafel-Bewegung in Deutschland: 15,6 Millionen Menschen sind von Armut betroffen / ( dpa )

domradio.de: Wenn Sie das vergangene Jahr anschauen. War das ein gutes oder schlechtes Jahr?

Jochen Brühl (Vorsitzender Bundesverband Tafeln): Ach, eigentlich war es ein gutes Jahr, weil über 60.000 Ehrenamtliche sehr massiv für andere unterwegs sind, sich für andere einsetzen, sich in ganz verschiedenen Städten, Regionen und Kommunen in Deutschland engagieren. Das erfreut mich. Was mich nicht erfreut, ist, dass die Zahl derer, die von Armut betroffen oder bedroht sind, laut Erhebung des Paritätischen Wohlfahrtsverbands im vergangenen Jahr wieder leicht angestiegen ist auf 15,6 Millionen Menschen.

Jochen Brühl, Vorsitzender des Bundesverbandes Deutsche Tafel / © Oliver Mehlis (dpa)
Jochen Brühl, Vorsitzender des Bundesverbandes Deutsche Tafel / © Oliver Mehlis ( dpa )

domradio.de: Bei Ihrer täglichen Arbeit mit den Tafeln - was merken Sie davon, dass im vergangenen Jahr so viele Flüchtlinge ins Land gekommen sind. Landen die auch bei Ihnen an den Tischen?

Brühl: Die standen einfach vor der Tür, um das mal so zu sagen. Und das war natürlich für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Tafeln eine große Herausforderung, dass auf einmal eine große Anzahl von Menschen vor der Tür stand, die die Sprache nicht sprechen, die kulturelle Prägungen haben, die vielen von unseren ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern nicht bekannt sind. Inzwischen haben die Tafeln das gut gemeistert. Wir gehen davon aus, dass es den neuesten Zahlen nach 180.000 Menschen waren, die zusätzlich zu den Tafeln gekommen sind.

Konflikte zwischen "alten" und "neuen" Kunden

domradio.de: Kann es sein, dass da auch Konflikte entstehen zwischen ihren "alten" Kunden und den "neuen", also den neu dazu gekommenen Geflüchteten?

Tafeln in Deutschland

Die bundesweit agierenden Tafeln haben sich in den vergangenen 20 Jahren zu einer der größten sozialen Bewegungen in Deutschland entwickelt. Waren es 2002 noch gut 300, gibt es heute bundesweit etwa 900 Tafeln mit rund 2.100 Tafel-Läden und Ausgabestellen. Bei ihnen engagieren sich circa 60.000 ehrenamtliche Mitarbeiter. Alle zusammen versorgen sie mehr als 1,5 Millionen Menschen mit Lebensmitteln, die sie als Spenden im Handel und bei Herstellern gesammelt haben.

Helfer sortieren  Salat bei der Lebensmittelausgabe in der Kirche Sankt Karl Borromäus in Köln / © Harald Oppitz (KNA)
Helfer sortieren Salat bei der Lebensmittelausgabe in der Kirche Sankt Karl Borromäus in Köln / © Harald Oppitz ( KNA )

Brühl: Das ist immer da, wo Menschen zusammenkommen und Leute teilen müssen, ein Lernprozess. Ich glaube, diese Zuschreibungen von außen waren viel größer als das, was bei den Tafeln tatsächlich passiert ist. Natürlich gibt es auch immer Konflikte, aber Tafeln sind ja auch Orte der Begegnung und da kann man durch Gespräche, durch Verständnis einiges erreichen. Und wir sehen uns ja auch als niedrigschwellige Bewegung, die nicht nur Lebensmittel verteilt, sondern auch Verständnis für die Notsituation des anderen entwickelt.

domradio.de: Ist denn genug für alle da? Die Tafel in Sachsen-Anhalt hat ja zuletzt zum Beispiel einen starken Spendenrückgang verzeichnet.

Genug für alle da

Brühl: Wir haben bundesweit einen Zuwachs von zehn Prozent an Lebensmittelspenden im Vergleich zu den letzten Jahren. Das ist aber regional sehr unterschiedlich. Tafeln sind ja keine staatliche Organisation, das ist eine Freiwilligenbewegung. Wir können nur das geben, was wir bekommen. Und das wird unter denen aufgeteilt, die zu uns kommen. Und manche denken, das war auch bei den Flüchtlingen am Anfang so das Problem, da gibt es einen Anspruch drauf. Und da musste man erst mal klären, dass wir als Ehrenamtsbewegung jetzt nicht zusichern können, dass regelmäßig Leute eine festgelegte Warenmenge bei uns abholen können. Das ist von Jahreszeit zu Jahreszeit und von Region zu Region unterschiedlich.

domradio.de: Am 1. Oktober ist der Tag der Tafel und immer um diesen Termin herum finden verschiedene Veranstaltungen statt. In diesem Jahr ist das Motto "Tafeln sind Orte der Begegnung". Inwieweit sind Sie das denn?

Brühl: Ich glaube, dass Tafeln ein Ort sind, wo sich Menschen treffen, sich vielleicht sonst nicht treffen würden. Also manche Leute spielen gerne Tennis oder manche Leute haben andere Leidenschaften, auch religiöse Unterschiede. Also der Mensch neigt ja dazu, sich den Gruppen anzuschließen, die einem von den eigenen Interessen sehr nahe sind. Die Tafeln sind ein Ort, an dem sich auch die ehemalige Lehrerin oder der Frührentner mit einem Flüchtling oder mit einer Alleinerziehenden oder einem Rentner, bei dem die Rente nicht ausreicht, treffen kann. So entwickelt sich Verständnis für die spezielle Lebenssituation des anderen. Und diese Orte gibt es in Deutschland viel zu wenig, man umgibt sich ja meistens mit Leuten, die einem Recht geben in seinen Ansichten, und da gibt es dann auch Diskussionen, politische Auseinandersetzungen. Ich glaube, das ist ganz wichtig, dass es das in Deutschland mit den Tafeln gibt.

"Vielfalt nicht reduzieren"

domradio.de: Das heißt, Ihre Arbeit reicht über das Stillen des materiellen Hungers hinaus. Wenn Sie auf das kommende Jahr blicken - was sind da die größten Herausforderungen? Was erwarten Sie?

Brühl: Ich glaube das Wichtigste ist, dass man sich gesellschaftlich nicht funktionalisieren lässt, weil Menschen jetzt gerade betonen, dass unsere Gesellschaft durch Zuzug oder was auch immer in Gefahr ist. Aussagen wie "Deutsche Lebensmittel an deutsche Arme" halte ich für sehr bedenklich, weil da ja ganz viel drinsteckt, was am Ende entlarvend ist. Ich glaube, wir müssen in unserer Gesellschaft aufpassen, dass wir die Vielfalt nicht reduzieren, es ist auch wichtig, dass wir voneinander lernen. Ich glaube, was die Flüchtlinge betrifft, sollten sie auch die Sprache des Landes lernen, in dem sie leben. Diese Dinge helfen bei der Integration, das wird auch für uns ein wichtiges Thema sein. Wir haben ja inzwischen auch Flüchtlinge, die bei den Tafeln helfen, als Ehrenamtliche und Dolmetscher. Das sind schon wichtige Schritte. Und unser Ziel für das nächste Jahr ist, das Thema Armut weiter im Fokus zu behalten und dazu beizutragen, dass an den entscheidenden politischen gesellschaftlichen Stellen das Thema Armut so bearbeitet wird, dass sich Armut in unserem Land auch reduziert.

Das Interview führte Uta Vorbrodt.

Quelle:
DR