Mit Zeitzeugen-Gesprächen gegen Extremismus

"Wir wollen junge Menschen sensibilisieren"

Brennende Flüchtlingsheime und fremdenfeindliche Pöbeleien: Gewalt mit rechtsradikalem Hintergrund hat in Deutschland stark zugenommen. Wie dem Zeitzeugen-Gespräche vorbeugen sollen, erklärt Wolfgang Gerstner vom Maximilian-Kolbe-Werk im Interview.

Die Jugendlichen lauschen Zeitzeugenberichten.  / © Friso Gentsch (dpa)
Die Jugendlichen lauschen Zeitzeugenberichten. / © Friso Gentsch ( dpa )

domradio.de: Sie kümmern sich als katholisches Hilfswerk um Hilfe für die Überlebenden der Konzentrationslager und Ghettos. Aber natürlich setzen Sie sich auch dafür ein, dass so etwas wie damals nie wieder passiert. Eines Ihrer Projekte sind die Zeitzeugen-Gespräche, die Sie gemeinsam mit dem Kultusministerium in Sachen organisieren. Wie läuft das ganz praktisch ab?

Wolfgang Gerstner (Geschäftsführer): Das Projekt läuft mittlerweile seit zehn Jahren. Eine Projektwoche findet in Westsachsen in fünf Schulen statt. Eine weitere Woche in Ostsachsen beinhaltet zehn Schulen, die jeweils vom Kultusministerium unter den Bewerbern ausgesucht werden. Wir gehen ganz gezielt mit unseren Zeitzeugen aus Mittel- und Osteuropa, die Ghetto oder Lager überlebt haben, in diese Schulen hinein, um mit den Schülern zu sprechen.

domradio.de: Ist an den teilnehmenden Schulen das Extremismus-Potenzial besonders groß? 

Gerstner: Auch. Die Initiative geht ja von den Schulen aus. Das sind Schulen mit Bedarf, die die Hoffnung haben, dass die Gespräche mit den Zeitzeugen aktuelle Probleme lindern können.

domradio.de: Die meisten Zeitzeugen sind heute ja hochbetagt. Ist das den alten Leuten zuzumuten?

Gerstner: Wir erfüllen da einen doppelten Auftrag: den gesellschaftlichen Auftrag und die Verpflichtung gegenüber den ehemaligen Häftlingen, die es als ihre Mission ansehen, über ihre Erfahrungen zu sprechen, als Verpflichtung gegenüber denjenigen, die nicht überlebt haben. Das führt dazu, dass Hochbetagte zu uns nach Deutschland kommen. Oft machen diese Begegnungen mit der Jugend die Zeitzeugen ein Stück jünger.

domradio.de: Welche Erfahrungen haben Sie bisher gemacht: Wie reagieren die Schülerinnen und Schüler?

Gerstner: Sie sind neugierig und respektvoll. Aber wer sich mit rechtsextremem Gedankengut abgibt, der kommt zu solchen Gesprächen erst gar nicht. Es geht eher um diejenigen, die Argumente brauchen, um sich abzugrenzen von der rechten Szene. Von denen, die kommen, erfahren wir und die Zeitzeugen eine große Wertschätzung. Und von den Zeitzeugen erfahren die Schüler eine liebvolle Zuwendung, die ihnen ein möglicherweise schlechtes Gewissen nimmt. Denn die Schüler haben mit den möglichen Taten ihrer Großeltern nichts zu tun. Sie sollen verstehen, was es bedeutet, wenn Menschen verfolgt und diskriminiert werden. Sie sollen verstehen, dass so etwas immer verbunden ist mit einem Angriff auf Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit. Die jungen Menschen müssen diese Werte in der Zukunft verteidigen.

domradio.de: Was wollen die Schüler von den Zeitzeugen wissen? Gibt es da manchmal auch Fragen, die den Zeitzeugen unangenehm werden?

Gerstner: Die Zeitzeugen berichten erst einmal über ihre Erfahrungen. Das schafft eine intime Atmosphäre. Dann kommen oft Fragen, wie man das überleben konnte. Auch die Frage, ob der Glaube den Menschen geholfen habe. Und die Frage, was die Zeitzeugen über die Deutschen denken und warum sie in dieses Land kommen mit dieser Vergangenheit. Ich habe noch keine Fragen erlebt, die den Zeitzeugen unangenehm waren. Manche Fragen werden dann einfach nicht beantwortet.

domradio.de: Und was sagen die Zeitzeugen nach solchen Begegnungen?

Gerstner: An jedem Abend ist es eine große Erschöpfung, es gibt da keine Routine. Diese Wochen sind für die Menschen eine große psychische und physische Herausforderung. Sie sind aufgewühlt und erleben viele Dinge durch das Erzählen wieder neu. Es gibt auch Albträume. Aber sie nehmen das auf sich, weil es ihnen gut tut, den jungen Leuten etwas mit auf den Weg geben zu können, was nur ein Zeitzeuge kann. Da ist eine große Zufriedenheit, wenn junge Menschen zuhören und es gelingt, etwas zu bewirken.

domradio.de: Es ist ja sehr schwer, den Erfolg solcher Projekte in Zahlen zu messen. Warum lohnt sich der Aufwand in Ihren Augen?

Gerstner: Es kann nicht darum gehen, Erfolge zu messen. Das geht ja gar nicht. Wir wollen junge Menschen dazu sensibilisieren, die Ideen von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenwürde und Freiheit zu leben und zu verteidigen. Diese Werte fallen nicht vom Himmel, die muss man verteidigen. Und wenn die Geschichte zeigt, was passieren kann, wenn sich Menschen über andere erheben und die jungen Menschen das verstehen, dann ist schon viel erreicht. Jedes Jahr erreichen wir bis zu 1000 Schüler mit diesem Projekt. Und ich glaube, wir machen sie zumindest sehr nachdenklich. Es entstehen Freundschaften und Kontakte zu den Zeitzeugen. Die Schüler gehen aus dem Projekt anders hervor, als sie hineingegangen sind. Immer, wenn man Menschen mit Geschichte verbinden kann, bekommt Geschichte eine andere Bedeutung.

Das Interview führte Hilde Regeniter.


Wolfgang Gerstner (KNA)
Wolfgang Gerstner / ( KNA )
Quelle:
DR