Ärzte ohne Grenzen beklagen immer mehr Angriffe auf Kliniken

"Auch im Krieg gelten Regeln"

Sie gehen in die Gebiete, aus denen Tausende fliehen. Hilfswerke wie Ärzte ohne Grenzen wollen den Menschen in Krisenregionen helfen. Doch immer öfter werden sie selbst zur Zielscheibe - wie bei Bombardements auf Krankenhäuser.

Autor/in:
Anna Mertens
Zerstörtes Krankenhaus in Syrien / © Ärzte ohne Grenzen (dpa)
Zerstörtes Krankenhaus in Syrien / © Ärzte ohne Grenzen ( dpa )

Es ist die Grundvoraussetzung ihrer Arbeit. Hilfswerke wie Ärzte ohne Grenzen haben das Mandat, in Kriegen und Konflikten Verletzten und Kranken zu helfen. Das humanitäre Völkerrecht schützt Krankenhäuser, medizinisches Personal und Patienten. Doch was, wenn sich die Kriegsparteien nicht mehr daran halten? "Stellen Sie sich vor, es ist Krieg - und wir können nicht hin", sagt Volker Westerbarkey, Vorsitzender der deutschen Sektion von Ärzte ohne Grenzen am Donnerstag in Berlin.

Krankenhäuser Ziel militärischer Angriffe

Im vergangenen Jahr ist die Arbeit für das Hilfswerk vor allem im Mittleren Osten zu einem Spießrutenlauf geworden. Immer öfter wurden Gesundheitsstationen und Krankenhäuser Ziel militärischer Angriffe. Kliniken seien bombardiert und deren Mitarbeiter oder humanitäre Helfer bedroht, entführt oder ermordet worden, so Westerbarkey bei der Vorstellung des Jahresberichts. Dabei seien solche Angriffe - "ob 'versehentlich' oder vorsätzlich" eine klare Verletzung des humanitären Völkerrechts. "Auch im Krieg gibt es Regeln."

Die Bilanz ist erschütternd: 75 medizinische Einrichtungen, die von Ärzte ohne Grenzen unterstützt oder betrieben wurden, sind nach Angaben des Hilfswerks im vergangenen Jahr 106 Mal bombardiert oder beschossen worden. Ein vom Hilfswerk im afghanischen Kundus betriebenes Krankenhaus sei im Herbst 2015 durch einen US-Luftangriff "de facto ausradiert" worden, so Westerbarkey.

Angriffe in Syrien, Südsudan oder der Ukraine

Allein in Syrien habe es im vergangenen Jahr 94 Angriffe gegeben. Dort seien zwölf medizinische Einrichtungen komplett zerstört worden. Mehr als 80 Mediziner wurden verwundet oder getötet. "Und die Angriffe hören nicht auf", erzählt Westerbarkey. Für das Jahr 2016 meldet das Hilfswerk bislang 14 Angriffe auf elf Einrichtungen, vor allem in Syrien. Die Zahl der Toten ist bereits auf mehr als 80 gestiegen.

Aber auch in anderen Ländern, etwa im Südsudan, der Ukraine oder dem Jemen habe es Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen gegeben. Schuld seien alle Beteiligten, betont Westerbarkey. Vier der fünf Mitglieder des UN-Sicherheitsrats hätten sich im vergangenen Jahr an Militärkoalitionen beteiligt, die medizinische Einrichtungen bombardiert hätten. Sämtliche Angriffe müssten unabhängig aufgeklärt und in Zukunft verhindert werden, fordert Westerbarkey.

Missachtung humanitärer Grundsätze

Für Geschäftsführer Florian Westphal sind die Bombardements nur ein Beispiel für die Missachtung humanitärer Grundsätze. "Jeder Mensch muss auch das Recht haben aus einem Konflikt- oder Krisengebiet zu fliehen und außerhalb des Heimatslands Schutz zu suchen", bekräftigt Westphal.

Europa konzentriere sich jedoch darauf, die Menschen abzuhalten und die Grenzen zu schließen. Der EU-Flüchtlingshotspot Moria auf der Insel Lesbos gleiche einem Gefängnis. "Wegen der gravierenden Missachtung humanitärer Grundsätze durch die EU und ihre Mitgliedsstaaten diskutieren wir derzeit, ob wir überhaupt noch Gelder von ihnen annehmen sollen", sagt Westphal. In Moria haben die humanitären Helfer ihre Arbeit aus Protest beendet.

Das EU-Türkei-Abkommen sei ein gefährlicher Präzedenzfall der falschen Flüchtlingspolitik. Die EU gebe der Türkei Milliarden zur Versorgung der Flüchtlinge, unter der Bedingung, dass sie die Abriegelung der EU-Außengrenzen unterstütze. Das sei ein Missbrauch humanitärer Hilfe. Die Bundesregierung sei als wichtiger Verhandlungspartner der Türkei mit dem Abkommen zu einem "Vorreiter der verheerenden Aussperrung von Schutzsuchenden aus Europa" geworden, klagt Westphal.

Seenotrettung im Mittelmeer

Das Ärztehilfswerk hat nach eigenen Angaben von Mai bis Dezember 2015 rund 20.100 Menschen vor der Küste Libyens aus Seenot gerettet. Vor Lesbos seien 455 Menschen gerettet worden. In diesem Jahr wurden den Angaben nach seit April bereits rund 3.600 Menschen aus Seenot in Sicherheit gebracht.

Die Spendeneinnahmen des Hilfswerks sind dabei im vergangenen Jahr erneut gestiegen. Insgesamt 125 Millionen Euro vorrangig privater Spenden gingen an Ärzte ohne Grenzen. "Wir erfahren viel Unterstützung", so Westphal. Das Grundrecht auf medizinische Versorgung gelte hier noch etwas.


Quelle:
KNA