Türkei-Berater über die Bedeutung der Enteignungen

Christliche Einrichtungen, aber zu wenige Christen

Türkische Behörden hatten Anfang April ein christlich-orthodoxes Kloster enteignet. Wie ist dieser Schritt einzuordnen? Ein Gespräch mit dem Türkei-Berater von "Kirche in Not".

Seiteneingang der Kirche St. Paul in Tarsus (Archivfoto vom 17.06.2008) / © Carsten Hoffmann (dpa)
Seiteneingang der Kirche St. Paul in Tarsus (Archivfoto vom 17.06.2008) / © Carsten Hoffmann ( dpa )

domradio.de: Der Staat nimmt den Christen ein Kloster weg und macht einen Feuerwehrposten daraus. Ist das nicht ein Schlag ins Gesicht der Christen in der Türkei?

Professor Rudolf Grulich (Türkei-Berater von „Kirche in Not“): Selbstverständlich ist das ein schwerer Schlag für die Christen, in diesem Falle für die orthodoxe Kirche des Ökumenischen Patriarchates, dessen Patriarch immerhin das Ehrenoberhaupt der orthodoxen Christen ist.

domradio.de: Das Kloster auf Chalki hat ohnehin schon einiges erlebt...

Grulich: Hier müssen wir uns fragen, welches Kloster? Chalki, türkisch Heybeli Ada, ist eine der bewohnten Prinzeninseln im Marmara-Meer, die eine Diözese des Patriarchates bilden. Das Dreifaltigkeitskloster ist der Sommersitz des Patriarchates und beherbergte bis zur ihrer Schließung 1971 auch die Theologische Akademie. Auf der Insel gibt es noch eine Nikolaus- und eine Barbarakirche. Auf den anderen Inseln kenne ich griechische und armenische Kirchen und Klöster: auf der Insel Büyuk Ada liegt der Sommersitz des Nuntius und eine Kirche der Franziskaner.

domradio.de: Beobachter machen in der Türkei unter Erdogan schon seit langem eine schleichende Islamisierung des Alltags aus. Würden Sie sagen, dass das wirklich so ist?

Grulich: Als Erdogan als Regierungschef begann, schien sich manches zu verbessern, auch für die Christen der verschiedenen Kirchen, Riten und Konfessionen. Aber als Staatsoberhaupt hat er sein wahres Gesicht gezeigt und betreibt als Sunnit eine systematische Islamisierung. Er will die sunnitische Richtung des Islams als Staatsreligion. Das spüren auch die Alawiten, die zwar ein Viertel der Bevölkerung stellen, aber systematisch diskriminiert werden.

domradio.de: Und was bedeutet das für die Christen im Land?

Grulich: Die Christen werden nicht verfolgt, aber benachteiligt. Allein in Istanbul gibt es über 150 Kirchen verschiedener Konfessionen, die noch echte Gotteshäuser sind, nicht Museen wie die Hagia Sophia oder das Chora-Kloster. Es gibt christliche Klöster, Schulen und Krankenhäuser, aber zu wenige Christen. Die Christen der verschiedenen Sprachen, Konfessionen, Riten und Jurisdiktionen sind heute eine marginale Minderheit in einem Land, das Papst Johannes Paul II. das „Land der Kirche“ nannte.

domradio.de: In den letzten 100 Jahren ist die Zahl der Christen im Land dramatisch gesunken - von 3 Millionen auf gerade noch 100.000 - wie würden Sie die Situation der Christen in der Türkei heute beschreiben?

Grulich: Die Zahlen des Rückgangs sind noch erschreckender, wenn wir uns vor Augen halten, dass diese drei Millionen 1914 bei einer Gesamtbevölkerung auf dem Gebiet der heutigen Türkei von nur 12 Millionen Einwohner ein Viertel der Gesamtbevölkerung ausmachten. Die Hunderttausend Christen heute hingegen können unter den 78 Millionen Bürgern der Türkischen Republik nur mit Promillezahlen angegeben werden. Der Völkermord an den Armeniern und Aramäern, die Umsiedlung der Griechen aus Anatolien 1923 nach dem von Athen begonnenen Krieg in Kleinasien und das böse Spiel der europäischen Mächte nach 1918, all das hat die Christen zu Opfern gemacht.

domradio.de: Was könnten, was müssten westliche Politiker für die Christen in der Türkei tun?

Grulich: Europa müsste das tun, was einige Staaten wie Frankreich, England und Sardinien-Piemont, das spätere Italien, in der Mitte des 19. Jahrhunderts erreichten. Diese Staaten unterstützten die Osmanische Türkei 1853 bis 1856 im Krimkrieg gegen Russland, und im Gegenzug verlangten sie Religionsfreiheit für alle Christen. Dies geschah und der Vertrag von Paris, der den Krimkrieg 1856 beendete, gewährte den Christen alle Rechte. Damals erlaubte der Sultan, der auch Kalif war, sogar den Übertritt vom Islam zum Christentum. Im 19. Jahrhundert wurden die vielen Kirchen gebaut, auf denen wir noch heute Kreuze sehen, nicht nur in Konstantinopel und Anatolien, sondern auch in Aleppo, Beirut und Jerusalem, die damals alle im Osmanischen Reich lagen. Daran müssen wir die heutigen Möchtegern-Kalifen ebenso erinnern wie die Politiker angeblich christlicher Parteien. Christliche Reisebüros sollten die Kirchen und Gemeinden der Türkei in ihr Programm aufnehmen und nicht nur archäologische Stätten in Kleinasien und für Touristen gepflegten orientalischen Zauber zeigen.


Professor Dr. Rudolf Grulich, Türkei-Berater von "Kirche in Not".  (KiN)
Professor Dr. Rudolf Grulich, Türkei-Berater von "Kirche in Not". / ( KiN )
Quelle:
DR