Alltagsbegleiter im Alten- und Pflegeheim

Ein maskenloses Leben

Der Alltagsbegleiter tritt erst spät in das Leben von Pflegebedürftigen, denn mit ihm zusammen wird es irgendwann enden. Bis dahin gibt es aber noch viel zu erzählen und zu lachen. Ein Besuch im Theodor-Fliedner-Haus in Limburg.

Autor/in:
Beatrice Steineke
Auch visuell erweckt der Alltagsbegleiter die Aufmerksamkeit der Bewohner im Alten- und Pflegeheim / © Beatrice Steineke (DR)
Auch visuell erweckt der Alltagsbegleiter die Aufmerksamkeit der Bewohner im Alten- und Pflegeheim / © Beatrice Steineke ( DR )

Da ist der Ehemann, der es 66 Jahre lang war und es nun seit einer Woche nicht mehr ist. Da ist die Frau, die seit dem Tod der eigenen Mutter vor 30 Jahren das Weinen und das Lachen neu erlernen will. Da ist der Charmeur, der für jede Dame ein formvollendetes Kompliment auf den Lippen trägt. Und da ist er: der Alltagsbegleiter. Einer, der erst spät in das Leben der Bewohner tritt, denn mit ihm zusammen wird es irgendwann enden. Bis dahin gibt es aber noch viel zu erzählen und zu lachen.

"Das ist sehr maskenlos, das Leben hier. Sehr direkt. Sehr konkret. Sehr lebendig. Ganz im Gegenteil zu dem, was man sich vorstellt", sagt Andreas Schachl gleich zu Beginn seiner Schicht an einem Morgen im Februar. Der ausgebildete Berufsschauspieler hat vor zwei Jahren mit 49 seine Hauptrolle gewechselt. Jetzt ist er Geiger, Nachrichtenquelle, Vorleser und noch viel mehr, aber vor allem ein Freund. Er spielt keine Rolle mehr, denn an seinem täglichen Arbeitsplatz gibt es ja keine Masken mehr. Keine Show. Kein Vorhang.

Herr Schachl ist nach § 87 b SGB XI ein Betreuungsassistent für alle 36 Bewohner des Theodor-Fliedner-Hauses in Limburg an der Lahn, dessen Träger der Förderverein der Diakonie Limburg und die gemeinnützige Mission Leben gGmbH in Darmstadt sind. Seit 2001 wohnen in dem Alten- und Pflegeheim Menschen, die aufgrund einer körperlichen oder einer geistigen Beeinträchtigung Hilfe im Alltag benötigen. Ob es der eigene Körper ist, der nicht mehr so kann, wie man selbst will oder ob es die Demenz ist, die das Leben zuhause unmöglich machte. Alle haben eines gemeinsam: Sie wollen mit ihren Bedürfnissen ernst genommen werden.

Das Heute und das Gestern in der täglichen Morgenrunde

Es ist halb neun und sieben Bewohner warten nach dem Frühstück auf die Morgenrunde. Da sitzt eine ehemalige Fernmeldetechnikerin neben einer Pianistin, eine Sozialwissenschaftlerin mit Doktortitel neben einem Autoschlosser. Drei von ihnen sind Jahrgang 1923. "Wir lebten früher, wir werden auch eine Zukunft haben, aber jetzt leben wir hier, und wir versuchen möglichst viel positive Erinnerung von früher hier ran zu schaffen, aber eben auch, dass wir uns einfach hier wohl fühlen können." Mit diesen Worten erklärt Schachl seinen großen, teilweise von Zuhause mitgebrachten Fundus an Gegenständen. Ein Zauberer besitzt Utensilien. Herr Schachl versucht mit Büchern, Stofftieren, einer Muschel, einer Büste von Johann Sebastian Bach und einem alten Wäschestampfer die Phantasie seiner Zuhörer anzuregen.

Zuerst geht es in die Vergangenheit. Heute im Jahr 1767 sei die erste Waschmaschine von einem Regensburger Theologen namens Jacob Christian Schäffer vorgestellt worden. Mit lautem Knall drückt er den alten Wäschestampfer auf den Boden und fragt in die Runde, wer denn früher so seine Wäsche gewaschen hätte. Einige nicken. Vor allem die Damen der Runde. Einige blicken skeptisch. Zwei andere Bewohner sind kurz eingenickt. Dann hilft meist eine kurze Berührung der Schulter oder ein vorsichtiges Streichen der Hände, um die Aufmerksamkeit wieder auf den Alltagsbegleiter zu lenken.

Die Sozialwissenschaftlerin entschuldigt sich und bekundet, dass sie schlecht geschlafen habe. Auch das ist ein Zeichen für Schachl. Er muss stets wachsam sein für die Tagesverfassung der Bewohner. Dann nimmt er den Bogen und seine Geige und spielt ein kurzes Lied, bei dem sich merklich die Gesichtszüge aller entspannen. Kurz darauf wird es laut, denn beim Verlesen der aktuellen Nachrichten aus der Tageszeitung schlägt Schachl ein Gebet für alle Menschen in Syrien vor. Diejenigen, die zeigen wollen, wie fit und interessiert sie noch sind, die diskutieren gerne. Und der Alltagsbegleiter diskutiert mit.

Seit August 2015 arbeiten drei Alltagsbegleiter in drei Schichten

Heute ist Dienstag. Das ist Frau Müllers Tag. Sie ist die Leiterin des Sozialen Dienstes vom Theodor-Fliedner-Haus und dessen Partnereinrichtung. Die studierte Sozialpädagogin koordiniert das Zusammenspiel zwischen der Pflege und der zusätzlichen Betreuung durch die Alltagsbegleiter. Seit dem ersten Pflegestärkungsgesetz (s. Info-Box) zum 01. Januar 2015 stehen allen Pflegebedürftigen zusätzliche Betreuungs- und Entlastungsleistungen zu. Deshalb gibt es im Limburger Theodor-Fliedner-Haus seit August letzten Jahres ein dreigliedriges Schichtsystem. Zu jeder Tageszeit soll jeder Bewohner die Möglichkeit haben einen Alltagsbegleiter ansprechen zu können.

Wenn Annegret Müller um 10 Uhr das Gedächtnistraining im großen Gruppenraum beginnt, besucht Herr Schachl besonders die Menschen, die nicht mehr daran teilnehmen können oder es gerne etwas ruhiger mögen. Genau das macht für die Leiterin des Sozialen Dienstes die Arbeit der Alltagsbegleiter aus. Sie lassen sich auf die Bewohner ein und gelangen mithilfe dieser individuellen Aufmerksamkeit zu einer ersten Vertrauensbasis (Hören Sie dazu das Interview mit Annegret Müller).

Vertrauen, dass man sich verdienen muss. Herr Schachl weiß, dass er bei vielen Bewohnern schon mit dem ersten Schritt in die Einzelzimmer in die Privatsphäre eindringt. Die meisten bitten ihn gerade darum. Und er macht, wonach seinem Zuhörer gerade ist. Dann lässt er auf seinem Smartphone ein Youtube-Video mit Musik von Chopin laufen oder er hört sich die Geschichten über das Limburg von früher an. Er liest aus den Römerbrief und spricht auch schon mal ein paar Wörter Italienisch. Immer wieder nimmt er die Geige zur Hand. So wie bei dem Charmeur, der ihm im Flur begegnet. Der Bewohner wünscht sich für all die hübschen Damen im Haus ein Liebeslied und summt gleich eine Melodie. Schachl versucht sie zu erkennen, spielt ein spontanes "White Christmas" und die Pflegefachkraft, die vorbeiläuft, grinst.

Da zu sein. Präsenz zu zeigen. Ansprechbar zu sein. Das ist dem Alltagsbegleiter wichtig. Eine Dame konnte lange aufgrund einer Keimerkrankung nicht an der Hausgemeinschaft teilnehmen. Sie ist bettlägerig und kann sich nur schwer artikulieren. Aber die Augen, die strahlen, als Schachl an ihr Bett tritt. Sie verfolgt seine Bewegungen und spürt seinen festen Händedruck. Er streicht ihr über die Wangen. Wochenlang war das nicht möglich. Mehrmals spricht Herr Schachl mit ihr darüber, wie froh er ist, dass er sie nun wieder mit einer sanften Berührung begrüßen kann.

Die Gemeinschaft bleibt lebendig, auch durch den Tod

Als er vor drei Jahren seine eigene Mutter beim Sterben begleitete, da begriff er, dass er da sein wollte. Nicht nur für seine Familie, sondern auch für andere Menschen. Im Januar starben gleich vier Bewohner im Theodor-Fliedner-Haus, die erstmal eine große Lücke hinterlassen haben. Die Trauer teilen sie alle, ob Angehörige oder Zimmernachbar oder das Personal des Hauses. Herr Schachl richtete eine kleine Andachtsecke mit Erinnerungsstücken und Blumen ein, die jedem offen steht. Was zählt ist nicht nur die kommunikative Kreativität der Alltagsbegleiter, sondern auch die nonverbale Kommunikation. Manchmal sagt ein Blick mehr als Worte. Ein Blick aus einem Gesicht ohne Maske. (Hören Sie dazu auch das Interview mit Andreas Schachl). Ein Lächeln, das neue Bewohner begrüßt, die ihren Platz in der Gemeinschaft erst finden müssen. Eines ist klar: Die Alltagsbegleiter klopfen auf jeden Fall an ihre Tür.


Die Morgenrunde: Alltagsbegleiter Andreas Schachl liest ein neues Kapitel vor / © Beatrice Steineke (DR)
Die Morgenrunde: Alltagsbegleiter Andreas Schachl liest ein neues Kapitel vor / © Beatrice Steineke ( DR )
Quelle:
DR