Ärzte ohne Grenzen: Lage wird täglich schlimmer

Angst vor Epidemie in Syrien und Nachbarländern

Mitten im Bürgerkrieg ist in Syrien die Kinderlähmung ausgebrochen. Zehn Verdachtsfällen haben sich laut Weltgesundheitsorganisation bestätigt. Frank Dörner von Ärzte ohne Grenzen beschreibt die Situation als "sehr prekär".

Impfschutz gegen Polio (dpa)
Impfschutz gegen Polio / ( dpa )

domradio.de: Ist in Syrien die Kinderlähmung ausgebrochen? Können Sie das bestätigen?

Frank Dörner (Geschäftsführer von Ärzte ohne Grenzen): Wir wissen nur, dass das offiziell von der WHO (Weltgesundheitsorganisation, Anm. d. Red.) verlautbar wurde und können nicht bestätigen, dass wir selber in unseren Projekten, unseren Kliniken und Krankenhäusern, Verdachtsfälle oder akute Fälle von Polio gesehen haben.

domradio.de: Wenn die Berichte der WHO stimmen, was würde das bedeuten für das Land?

Dörner: Wir gehen davon aus, dass es bestätigte Fälle sind, dass es also stimmen wird. Das bedeutet für das Land, dass Polio nach 14 Jahren Poliofreiheit wirklich wieder zurückgekehrt ist. Es ist ein deutlicher Ausdruck dafür, dass das gesamte Gesundheitssystem weitestgehend zusammengebrochen ist und stellt eine dramatische Situation für die Bevölkerung vor Ort da.

domradio.de: Was heißt das für die medizinische Versorgung? Polio ist hochansteckend. Was muss jetzt passieren?

Dörner: Im Grunde muss versucht werden, möglichst schnell jetzt einen großen Impfschutz der nicht geimpften Bevölkerung, vor allem der kleinsten Kinder zu erreichen. Wir alle erinnern uns, dass wir damals Schluckimpfungen bekommen haben, das hat sich dann irgendwann verändert. Diese Art von Impfung kann man schnell applizieren, sie müsste flächendeckend eingesetzt werden und im Grunde ein großer Schutz für die Nicht-Immunisierte Bevölkerung erreicht werden.

domradio.de: Viele Menschen, viele Kinder sind in die Nachbarländer geflüchtet. Der Libanon hat schon eine große Impfkampagne angekündigt, will 700.000 Menschen impfen. Kommt das vielleicht schon zu spät?

Dörner: Man muss davon ausgehen, dass im Moment die Fälle in einem sehr umschriebenen Gebiet registriert wurden. Natürlich besteht die Gefahr, dass über die enormen Flüchtlingsbewegungen, die ja tagtäglich stattfinden, auch dort eine Exposition in anderen Ländern stattfinden kann. Insofern sind sicherlich Impfmaßnahmen, die jetzt möglichst schnell umgesetzt werden, auch in den umliegenden Ländern, wo der Impfschutz ja zum Teil auch recht schlecht ist und wo auch Flüchtlingsgruppen, viele viele Menschen ja auch leben, sehr sinnvoll.

domradio.de: Jetzt haben Sie schon gesagt, wenn Kinderlähmung ausgebrochen ist, ist das ein Zeichen für ein zusammengebrochenes medizinisches Versorgungssystem. Heißt das, es kann in Syrien überhaupt nicht mehr so weitergehen, ohne dass die Gefahr besteht, dass weitere Seuchen ausbrechen?

Dörner: Wir haben das schon seit längerer Zeit gesehen und auch gesagt, dass wesentlich mehr gemacht werden muss. Das gesamte Basisgesundheitsversorgungssystem ist zusammengebrochen, die Akutversorgung ist weitestgehend auch zusammengebrochen, es gibt nur noch einen Teil der ehemals existierenden Krankenhäuser, die überhaupt funktional sind. Das ganze Ambulanzsystem ist zusammengebrochen, die Versorgung mit Material, mit Medikamenten mit Diagnostika ist weitestgehend zum Erliegen gekommen, so dass man wirklich sagen muss, dass weiter die Gefahr besteht, dass Epidemien ausbrechen. Wir haben selber Masernausbrüche gesehen. Es ist eine sehr sehr prekäre Situation und sie wird täglich schlimmer. 

domradio.de: Was hören Sie aus dem Land - wie gefährlich ist es aktuell?

Dörner: Nach wie vor ist es extrem gefährlich, in dem Land zu arbeiten. Das stellt natürlich auch die wenigen internationalen Organisationen, die vor Ort sind, vor enorme Herausforderungen. Es muss sozusagen täglich sich auf die Sicherheitslage eingestellt werden und das heißt, es ist sehr schwierig dort flächendeckende große Projekte wirklich umzusetzen. Nach wie vor ist es so, dass medizinische Einrichtungen, dass medizinische Helfer gezielt angegriffen werden und das heißt letztendlich, dass die Arbeit auf der einen Seite dort wirklich extrem logistisch aufwendig ist, auf der anderen Seite aber auch sehr gefährlich. Das, was wir zum Beispiel und andere leisten können, ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein ist. Es muss mehr getan werden und es muss mehr humanitäre Hilfe von allen Seiten möglich gemacht werden.

Das Interview führte Matthias Friebe


Flüchtlingslager in der Türkei (dpa)
Flüchtlingslager in der Türkei / ( dpa )
Quelle:
DR