Missbrauchsopfer kritisiert Aufarbeitung in der Kirche

"Ich will kein Verständnis, ich möchte Kooperation"

Die Evangelische Kirche in Deutschland sieht sich bei der Missbrauchsaufarbeitung auf einem guten Weg. Die Betroffenen sehen das anders. Kerstin Claus meint, dass es noch ein weiter Weg bis zu einer echten Aufarbeitung sei und kritisiert, dass Opfer emotionalisiert würden.

Symbolbild Missbrauch in der Kirche / © Annnna_11 (shutterstock)
Symbolbild Missbrauch in der Kirche / © Annnna_11 ( shutterstock )

DOMRADIO.DE: Was bemängeln Sie denn genau an der Aufarbeitung in der evangelischen Kirche?

Kerstin Claus (Journalistin, Mitglied im beim Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung angesiedelten Betroffenenrat): Erst mal muss man mal verstehen, dass, bevor man überhaupt aufarbeiten kann, es eine Aufklärung der Fälle braucht, wenn Betroffene sich melden. Ich nehme schon wahr, dass Fälle nicht aufgeklärt werden, sondern stattdessen man vielleicht schnell in eine Anerkennungszahlung geht.

Das heißt: Erst mal muss aufgeklärt werden, um was geht es? Dann braucht es die Leitungsebene, die bis vor Ort wirken muss. Dann brauchen sie sozusagen eine Struktur, die sich durch alle Ebenen so durchdekliniert, dass es vor Ort wirkt und dass Betroffene tatsächlich, wenn sie sich heute melden, in bessere, transparentere Verfahren kommen. Und all das passiert nicht. Es wird erst schon nicht aufgeklärt und darauf kann dann erst recht keine Aufarbeitung aufsetzen. Das heißt, es gibt sie bisher einfach nicht.

DOMRADIO.DE: Und was wäre jetzt der nächste optimale Schritt, von dem Sie sagen würden: Das ist das, was die evangelische Kirche jetzt tun muss?

Claus: Wenn Sie sich anschauen, was wäre Aufarbeitung? Dann wäre es: Ich melde mich bei einer Landeskirche. Dann wird angeguckt, was ist da dran an dem, was ich gemacht habe? Es wird sozusagen disziplinarrechtlich erledigt und dann schaut man sich im Rahmen der Aufarbeitung an, was waren denn begünstigende Faktoren? Wer hat da nicht hingeschaut? Wo existierte Täterschutz? Bei Aufarbeitung ist ganz wichtig, ist man in einer Struktur, wo Betroffene gleichberechtigt einbezogen werden müssen, und die Deutungshoheit liegt nicht bei der Kirche.

Wenn man das dann verstetigt, wenn man diese Prozesse vor Ort in Gemeinden reflektiert, dann kann ich da auch mit Prävention ansetzen. Dann betreibe ich tatsächlich die Vermeidung künftiger Taten, weil alle wissen, um was es geht. Das muss man lernen in den Institutionen und auch in der evangelischen Kirche.

DOMRADIO.DE: Der Braunschweiger Landesbischof Christoph Meyns hat jetzt die Aufgabe als neuer Sprecher des Beauftragtenrats zum Schutz vor sexualisierter Gewalt im Bereich der evangelischen Kirche übernommen. Was wünschen Sie sich von der Zusammenarbeit und vielleicht auch von ihm?

Claus: Wir sind uns ja schon öfter begegnet in verschiedenen Prozessen. Ich würde jetzt mal spontan sagen, er ist beim Thema relativ blass geblieben. Ich habe keine besondere Affinität zu diesem Thema bisher festgestellt. Er ist sicher einer, der auch gerne so einen Elf-Punkte-Plan hat, ihn wie in einer Checkliste abhakt. Aber das funktioniert bei dem Thema nicht, weil man die Qualität in den Prozess bringen muss.

Mir fällt auf, dass er in seiner Landeskirche seit Jahren immer davon spricht, dass es genau sieben betroffene Meldungen bisher gibt. Da muss man sich dann vielleicht doch mal auch intern bei ihm die Strukturen anschauen, ob denn überhaupt Voraussetzungen geschaffen wurden, damit sich Betroffene melden können. Ich würde mir wünschen, dass er wirklich anfängt, sich intensiv mit dem Thema auseinanderzusetzen, um wirklich aktiv Akzente zu setzen.

DOMRADIO.DE: Bislang gibt es fast 900 Menschen, die sich im Kontext Missbrauch gemeldet haben. Gehen Sie davon aus, dass es da noch eine große Dunkelziffer gibt?

Claus: Aus meiner Sicht ja, weil, wenn Sie sich die Studie in der katholischen Kirche anschauen, dann kommen Sie zu einer Betroffenengruppe, die schwerpunktmäßig zwischen acht und zwölf Jahren zum Tatzeitpunkt ist. Im evangelischen Setting über Jugendarbeit, Konfirmation, also die Kernphasen sozusagen, sind Betroffene sehr häufig älter. Und dann ist es tatsächlich auch individuell schwerer zu erkennen, dass das nicht die erste misslungene Liebesbeziehung war, sondern, dass das sexualisierte Gewalt, dass das Missbrauch war, weil vermeintlich hätte man ja "Nein" sagen können, im älteren jugendlichen Alter. Und das ist es eben nicht. Ich gehe davon aus, die Zahl ist deutlich höher und die EKD hat bisher keine Strukturen geschaffen, damit sich Betroffene gut melden können in unabhängigen Stellen, also 900 Betroffene derzeit. Das ist definitiv immer noch der Anfang.

DOMRADIO.DE: Was ist es denn, was die evangelische Kirche und vielleicht auch die katholische Kirche im Umgang mit sexuellem Missbrauch und vor allem auch den Betroffenen lernen kann und lernen muss?

Claus: Wir erleben immer wieder, dass, wenn wir auf einer sehr strukturellen Ebene kritisieren, Verbesserungen einfordern, dass wir immer wieder emotionalisiert werden. Dann heißt es, "ich verstehe Ihre Enttäuschung". Dabei ist das eine sachliche Kritik. Es gibt keinen fundierten Umgang auf einer gleichberechtigten Ebene, sondern es gibt immer das Ausweichen in "ich verstehe ja, dass Sie das belastet" und das ist immer eine Marginalisierung. Betroffene müssen in ihrer Expertise, in ihrer Kenntnis auch um Täterstrategien wahrgenommen werden.

Das braucht es eigentlich für alle Institutionen, dass Betroffene nicht immer auf ihre Opferrolle reduziert werden und dann immer eine mitleidige Kirche sozusagen treffen. Im Sinne "wir haben großes Verständnis für ihre schwierige Situation". Ich will kein Verständnis, ich möchte Kooperation. Ich möchte Zusammenarbeit und ich möchte Verbesserung. Und das müssen diese Strukturen lernen. 

Das Interview führte Gerald Mayer.


Kerstin Claus, Mitglied im Betroffenenrat (Betroffenenrat UBSKM)
Quelle:
DR