Berufungsurteil im Fall Barbarin zu Nichtanzeige von Missbrauch

Freispruch für den Kardinal

Ein Berufungsgericht in Lyon hat Kardinal Philippe Barbarin vom Vorwurf der Nichtanzeige sexueller Übergriffe freigesprochen. Damit ist der Fall juristisch erledigt. Doch das Image der Kirche in Frankreich hat gelitten.

Autor/in:
Franziska Broich und Alexander Brüggemann
Kardinal Philippe Barbarin / © Jean-Matthieu Gautier (KNA)
Kardinal Philippe Barbarin / © Jean-Matthieu Gautier ( KNA )

Paukenschlag in Lyon: Der französische Kardinal Philippe Barbarin ist am Donnerstag vom Berufungsgericht vom Vorwurf der Nichtanzeige sexueller Übergriffe freigesprochen worden. Während des Prozesses hatte sich neben Barbarins Anwalt auch die Staatsanwaltschaft für einen Freispruch des 69-Jährigen ausgesprochen.

Der Staatsanwalt begründete seine Entscheidung mit Zweifeln. Die Verurteilung des Kardinals wegen Nichtanzeige eines Priesters und mutmaßlichen Missbrauchtäters wäre seiner Meinung nach eine zu "weitreichende Auslegung" des Rechts gewesen.

Immenser Imageschaden

Der Erzbischof von Lyon war im März 2019 in erster Instanz schuldig gesprochen und zu sechs Monaten Bewährungsstrafe verurteilt worden. Zehn ehemalige Pfadfinder und mutmaßliche Missbrauchsopfer des Priesters Bernard Preynat traten als Nebenkläger auf. Juristisch ist der Fall damit erst mal erledigt - doch der Imageschaden ist immens.

Die Missbrauchsopfer werden sich mit dem Freispruch nicht abfinden. Würde man einen Imageexperten zum Erzbistum Lyon befragen, fiele das Urteil wahrscheinlich vernichtend aus. Es hätte kaum schlechter laufen können für die Kirche in den vergangenen Jahren. Seit 2016 beschäftigten sich nationale Medien immer wieder mit dem Skandal.

Begonnen hatte alles in den 80er Jahren. Damals soll der heute 73-jährige Priester Bernard Preynat, der für die Pfadfinder im Lyoner Stadtteil Sainte-Foy zuständig war, mehrere minderjährige Pfadfinder missbraucht haben. Dass Preynat pädophile Neigungen hatte, war bekannt. Schon Ende der 60er Jahre wurde ihm Psychotherapie verordnet; damals noch als Seminarist.

1991 wurde Preynat zum Gespräch mit dem damaligen Lyoner Kardinal Albert Decourtray (1923-1994) einberufen. Rückblickend sagte er während seines Mitte Januar begonnenen Prozesses, bereits damals hätte es einen kirchenrechtlichen Prozess geben müssen. Doch der blieb aus - und Preynat im Amt. Erst im Juli 2019 wurde Preynat von einem Kirchengericht aus dem Klerikerstand entlassen. In seinem eigenen Missbrauchsprozess, der in Lyon anhängig ist, hat der Staatsanwalt acht Jahre Haft gefordert.

2010 empfing Barbarin Preynat; er sollte eine Pfarrgemeinde im Erzbistum übernehmen. "Ich sagte Kardinal Barbarin, dass es zahlreiche Fakten gebe", so der Priester im Prozess. Doch das ist der Knackpunkt: Denn Barbarin sagt, er habe erst später davon erfahren, dass Preynat mehrere Jungen missbraucht habe. Der Priester sagt auch:

"Ich habe von zahlreichen Kindern gesprochen, aber bin nicht ins Detail gegangen." Dem widersprach Barbarin in seinem Prozess im Januar 2019. Er habe erst 2014 davon erfahren. Blieb der betroffene Priester damals so unklar, dass Barbarin die Tragweite nicht verstand? Oder wollte er sie nicht verstehen?

Ein früherer Pfadfinder informierte Barbarin nach eigenen Angaben im Juli 2014 über seinen Missbrauchsfall aus den 80er Jahren. Im August 2015 schickte der Kardinal Preynat daraufhin in den Ruhestand. Die Richter befanden Barbarin für schuldig, zwischen Juli 2014 und August 2015 über die Beschuldigungen informiert gewesen zu sein, sie aber nicht der Staatsanwaltschaft gemeldet zu haben - wie es in Frankreich Pflicht ist.

Bereits 2016 wurde gegen Barbarin wegen Nichtanzeige sexueller Übergriffe des Priesters ermittelt. Damals stellte die Staatsanwaltschaft das Verfahren nach einigen Monaten ein; es habe keine Hinweise auf eine Straftat Barbarins gegeben.

Von der Bildfläche verschwunden

Dann der zweite Prozess im Januar 2019. Mehrere Opfer sagten aus. Auch Barbarin sprach lange im Zeugenstand. Er beteuerte mehrmals seine Unschuld. "Ehrlich gesagt sehe ich nicht, wessen ich schuldig bin", sagte er während des Prozesses. Er habe nicht vermutet, dass er sich an die Justiz wenden müsse, "da die Fälle verjährt waren und das Opfer selbst bestätigt hat, dass es nichts mehr ändern könne". Im März 2019 sprachen die Richter Barbarin schuldig und verurteilten ihn zu einer sechsmonatigen Bewährungsstrafe. Der Kardinal legte Berufung ein.

Seitdem ist Barbarin von der Bildfläche verschwunden. Der inzwischen 69-Jährige übertrug die Leitung des Erzbistums Lyon erst Generalvikar Yves Baumgarten, bevor Papst Franziskus übergangsweise den früheren Bischof von Evry-Corbeille-Essonnes einsetzte, Michel Dubost (77).

Barbarins Amtsverzicht nahm Franziskus nicht an. Da das Berufungsverfahren noch nicht abgeschlossen sei, gelte die Unschuldsvermutung. Wie es mit Barbarin nun weitergeht, ist noch unklar. Eine Rückkehr als Leiter des Erzbistums scheint Beobachtern zumindest problematisch, auch nach einigen ungeschickten Äußerungen zu den Fällen.

Für die Opfer bedeuten die Prozesse gegen Preynat und Barbarin weit mehr als juristische Klarheit. Viele von ihnen leiden noch heute unter den Folgen. Sie fragen sich, wie ausgerechnet ein Priester so handeln und die Kirche ihn jahrelang decken konnte. Und sie verlangen eine Anerkennung des Leids, das sie oft bis heute durchleben. Der Freispruch des Kardinals wird sie von neuem mit Wut erfüllen.

Papst Franziskus sieht unterdessen seine kirchlichen Reformbemühungen immer wieder durch die Missbrauchsskandale der Vergangenheit unterminiert. An diesem Donnerstag - ob als Reaktion auf das Barbarin-Barbarin-Urteil? - verlangte er vor Mitarbeitern der Glaubenskongregation erneut eine "strenge und transparente" innerkirchliche Strafverfolgung von Missbrauch und anderen schweren Straftaten. Es gelte die "verletzte Menschenwürde, vor allem der Kinder", zu schützen.


Quelle:
KNA
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