Wie das Bonner Aloisiuskolleg seine Missbrauchsvergangenheit aufarbeitet

"Man muss und kann darüber sprechen"

Das Bonner Aloisiuskolleg hat eine schwere Zeit hinter sich. 2010 wurde öffentlich, dass jahrzehntelang Kinder und Jugendliche gedemütigt, geschlagen und zu sexuellen Handlungen gezwungen wurden. Nun arbeitet die Schule die Vergangenheit auf.

Schüler im Unterricht / © Julian Stratenschulte (dpa)
Schüler im Unterricht / © Julian Stratenschulte ( dpa )

DOMRADIO.DE: Pater Löwenstein, Sie sind seit 2017 Rektor an der Schule. Wie gehen Sie mit der Vergangenheit des Kollegs um?

Pater Löwenstein (Rektor des Aloisius-Kollegs in Bonn): Ich bin als Rektor tatsächlich der Ansprechpartner für Ehemalige und auch gerade für diese Fragen zuständig. Damit entlaste ich die Schule und den Schulleiter. Prävention und Kinderschutz gehen in die Mitte dessen, was Schule leisten kann - nämlich sich damit auseinanderzusetzen, wie Kinder sich gut entwickeln können.

Wir müssen anerkennen, was in der Vergangenheit passiert ist. Wir führen Gespräche mit den Opfern, aber auch mit den Vielen, deren Vergangenheit infrage gestellt wurde, weil sie eine tolle Schulzeit hatten. Erst im Nachhinein haben sie erfahren, dass ihre tolle Schulzeit und Erfahrung - sogar mit dem Hauptmissbrauchstäter selbst - die Kehrseite hatte, dass einzelne Schüler missbraucht wurden.

DOMRADIO.DE: Sie meinen, viele Schüler hatten eine schöne Zeit und waren sich der dunklen Schatten, die es an der Schule gab, gar nicht bewusst?

Löwenstein: Das Problem ist, dass man damals keine Sprache dafür hatte. Man hat das Problem wahrscheinlich geahnt. Ich habe gerade heute Morgen zufällig jemanden kennengelernt, der vorher auf der Schule war. Der erzählte mir, dass alle Schüler und Eltern wussten, dass der Pater auf Jungs steht. Man hat das aber in der Dimension nicht verstanden. Und man kam nie auf die Idee, welche Brutalität und Gewalt dahinter steht.

Man hatte gewusst, dass er ein autoritärer Knochen ist, der Leute fertig macht. Aber wie weit er gehen würde und welchen furchtbaren langfristigen Schaden das bei Kindern anrichtet, das hat man überhaupt nicht geahnt und nicht auf dem Schirm gehabt. Deswegen ging das so lange gut. Er war eine faszinierende Persönlichkeit und hatte viele Fans.

DOMRADIO.DE: Bevor wir auf die Prävention schauen, müssen wir noch einmal den Blick zurückwerfen. Das Aloisiuskolleg galt lange Zeit als Eliteschule der Jesuiten. Thomas de Maizière und Alexander Graf Lambsdorff sind unter den Absolventen. Dann kam dieser Skandal. Wie konnte es überhaupt passieren, dass Kinder unter dem Deckmantel jesuitischer Pädagogik so sehr gequält wurden?

Löwenstein: Ich finde es wichtig zu verstehen, dass unter dem Deckmantel jedes Systems Missbrauch geschieht. Vor allem, dass Missbrauch geschehen kann, wenn das System nicht die eigenen Strukturen kennt und aufmerksam ist. Ich würde sagen, dass die Hochnäsigkeit, mit der Jesuiten lange Zeit Pädagogik gemacht haben, eine besondere Gefahrenquelle ist. Nicht nur wir selber haben das nicht gesehen. Auch andere haben sich sozusagen "gebauchpinselt" gefühlt, ob der besonderen Schule. Deshalb war die Vertuschungsgefahr besonders groß. Aber zu sagen, es gibt eine bestimmte Pädagogik, in der Missbrauch nicht vorkommt, ist das Gefährlichste.

Jedes System ist gefährdet, das nicht weiß, dass es in allen Systemen Gewalt gegen Kinder gibt. Und unser System war so auf individuelle Brillanz hin gebaut, dass individuelle Kriminalität besonders gut gedeihen konnte. Strukturen haben gefehlt.

DOMRADIO.DE: Frau Scholz, der Missbrauchsskandal gehört zur Geschichte des Aloisiuskollegs. Ist das den Schülerinnen und Schülern heute noch bewusst?

Anna-Lena Scholz (Kinderschutzbeauftragte am Aloisiuskolleg): Interessanterweise gar nicht so sehr. Ich habe momentan eine Klasse 5. Ich wollte mit ihnen über den neuen Präventionsleitfaden ins Gespräch kommen und habe sie gefragt, wer etwas über die Geschichte des Aloisiuskollegs weiß. Da wussten viele gar nicht Bescheid. Und die, die etwas wussten, haben es kindlich formuliert: "Ja, da gab es schwere Zeiten" oder "Da sind Dinge nicht gut gelaufen". Da musste ich die Vorfälle erstmal in einer kindgerechten Sprache vermitteln.

DOMRADIO.DE: Es kommt also eher nicht vor, dass die Schülerinnen und Schüler von außen damit konfrontiert werden?

Scholz: Ich bin 2010, ein halbes Jahr nachdem der Missbrauchsskandal hochkam, an die Schule gekommen. Dazu haben sich die Schüler in meiner ganzen Zeit am Aloisiuskolleg nie geäußert. 

Löwenstein: Es ist jetzt im Internat so, dass ich einmal im Jahr einen Abend mit den Internatsschülern mache, um davon zu erzählen - gerade den Neuen. Ich bin völlig überrascht, dass die das nicht wissen. Ich musste ihnen erstmal sagen, an welcher Schule sie sind. Im Internat ist das offensichtlich etwas, zu dem andere nichts sagen. Das ist ein Teil des Problems: Man schweigt darüber.

DOMRADIO.DE: Ihre Aufgabe ist quasi, nicht darüber zu schweigen.

Löwenstein: Ja genau, wir bringen das Thema offensiv an die Schüler heran und ich glaube, das ist wichtig und tut ihnen gut. Sie reden dann auch gerne darüber.

DOMRADIO.DE: Der Leitfaden enthält auch einen Verhaltenskodex für jeden Mitarbeiter. Wie sieht der aus? Haben Sie da ein Beispiel?

Scholz: Da geht es vor allem um das Verhalten der Kollegen gegenüber den Kindern, den Schutzbefohlenen. Da geht es Räumlichkeiten, die getrennt und angemeldet sein müssen. Man kann sich nicht einfach privat auf Whatsapp mit Schülern verabreden, um in die Kneipe zu gehen. Das muss geregelt sein. Man hat immer noch Freiräume, um mit Schülern über den Unterricht hinaus in Kontakt zu kommen, aber das muss gemeldet sein.

DOMRADIO.DE: Die Schülerinnen und Schüler waren an der Erarbeitung des Verhaltensdodex mitbeteiligt. Welche Inhalte haben die Schüler mit eingebracht?

Scholz: Sie haben ihre eigenen Rechte und Pflichten aufgeschrieben. Was den Schülern am wichtigsten ist, ist zum Beispiel, dass der Unterricht pünktlich beginnt und endet. Für die Schüler steht das Thema sexuelle Prävention gar nicht an vorderster Stelle, weil es sie in ihrem Alltag gar nicht so sehr betrifft. Denen sind zum Teil ganz andere Dinge wichtig. Das ist für uns interessant. Da lernen wir auch von den Schülern.

DOMRADIO.DE: In den Präventionsleitfaden sind Leitlinien der Deutschen Ordensobernkonferenz eingearbeitet worden. Welche sind das?

Löwenstein: Es gibt großartige Papiere von der Bischofskonferenz, von den Diözesen und von Ordensoberen. Entscheidend ist aber, dass jede Institution mit den Leuten vor Ort Leitlinien formuliert. Wir haben als Dokumentation die allgemeinen Papiere angefügt, damit man vergleichen kann. Aber jede Schule sollte für sich einen eigenen Leitfaden erarbeiten. Es beginnt mit einer Analyse und der Frage: Wo sind eigentlich bei uns die Schwachstellen? Dann kann man darüber sprechen und selber formulieren, was eine Grenzüberschreitung wäre, die im pädagogischen Alltag passiert. Wo man zwischen Schülern, Eltern, Lehrern, Vorgesetzten darüber sprechen muss, wie das besser werden kann. Das sind Prozesse, die in der Institution selber laufen können. Wenn das nur von oben käme, dann wäre das falsch. Das Wertvolle ist das eigene Papier, weil es selbst erarbeitet wurde.

DOMRADIO.DE: Prävention ist ein Prozess, der ständig weiterläuft. Die Aufarbeitung begann 2010, aber das Thema ist noch lange nicht abgehakt. Es gibt auch Risikoanalysen, die alle fünf Jahre geplant sind. Was ist das?

Löwenstein: Es geht darum, zu schauen, wo die Probleme liegen. Es ist wichtig, dass die Analyse von den Betroffenen selber gemacht wird. Dass man mit den Schülern und Mitarbeitern darüber spricht. Wie sind die Abläufe bei euch im Internat? Wie ist das Verhalten von Pädagogen? Dass man schaut, wo man Regelungen treffen sollte, auch zur Verhaltenssicherheit der Mitarbeiter. Gerade im Internat, wo die Schüler wohnen, ist es ganz wichtig, dass man einen Blick dafür hat, wo man Regeln braucht, um gut miteinander leben zu können. Das ist die sogenannte Risikoanalyse.

DOMRADIO.DE: Sie haben den neuen Leitfaden am Aschermittwoch vorgestellt. Wie ist er bei den Schülerinnen und Schülern und bei Eltern und Mitarbeitern angekommen? Gab es positive Resonanz oder gab es auch Kritik?

Löwenstein: Wir haben alle Eltern gebeten, eine Rückmeldung zu geben. Alle Eltern und Schüler haben ein eigenes Exemplar bekommen. Den Mitarbeiter wurde gesagt, das es zu den Dienstpflichten gehört, sich damit auseinanderzusetzen.

Die Eltern haben schriftliche Rückmeldung gegeben. Unter denen, die etwas geschrieben haben, waren durchweg positive Rückmeldungen. Sie sagten, gut, dass ihr das Thema habt. Die haben das Bewusstsein dafür, dass es ein Thema ist, das wir in unserer Gesellschaft haben. Kinder müssen sich damit auseinandersetzen, dass Gewalt dort ein Thema ist, wo Große und Starke mit Kleinen und Schwachen zusammenkommen. Die Rückmeldungen sind durchweg positiv. Wahrscheinlich gibt es andere, aber die haben mir bislang nicht geschrieben.

DOMRADIO.DE: Wie sieht es in der Praxis, Frau Scholz?

Scholz: Ich kann sagen, wie die Schüler darauf reagiert haben. Ich weiß von einer Klasse 9, die sich intensiv damit auseinandergesetzt haben. Und deren Anmerkung war schön. Sie sagten: Das sind doch Selbstverständlichkeiten, die da drinstehen! Sie dachten dabei vor allem an den Sprachgebrauch, an einen respektvollen Umgang miteinander. Andere waren kritischer und meinten: An unserem Sprachgebrauch müssen wir noch arbeiten. Meine Klasse fünf war ganz froh über diese Thematik. Sie sagten: "Das ist ganz schön. Wenn ich mal ein mulmiges Gefühl habe, dann weiß ich jetzt, was ich machen kann."


Das AKO-Schulgebäude in Bonn / © Harald Oppitz (KNA)
Das AKO-Schulgebäude in Bonn / © Harald Oppitz ( KNA )
Quelle:
DR
Mehr zum Thema