Jesuit Klaus Mertes über seinen Tabubruch mit Folgen

"Das Grundvertrauen bleibt"

Klaus Mertes hat den Preis der Herbert-Haag-Stiftung erhalten. Der Jesuitenpater machte einen der größten Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche publik. Im Interview spricht er darüber, wie ihn das Thema verändert hat.

Autor/in:
Vera Rüttimann
Klaus Mertes SJ / © Markus Nowak (KNA)
Klaus Mertes SJ / © Markus Nowak ( KNA )

KNA: Pater Mertes, was bedeutet Ihnen die soeben erhaltene Auszeichnung?

Mertes: Der Preis bedeutet für mich eine Stärkung auf einem langen Weg. Es ist eine Stärkung aus dem Raum der Kirche, sozusagen von den "eigenen Leuten". Das tut gut. Ein bisschen beschämt bin ich auch, weil ich weiß, dass nicht ich es war, der mit der Aufdeckungsarbeit begonnen hat, sondern die Opfer. Und weil ich auch weiß, dass ich ohne die Unterstützung vieler Mitbrüder und der Kolleginnen und Kollegen an unseren Schulen die Anstrengungen der letzten Jahre nicht durchgehalten hätte.

KNA: Die Herbert-Haag-Stiftung zeichnet Personen aus, die sich durch mutiges Handeln exponiert haben. 2010 thematisierten Sie in einem Brief an ehemalige Berliner Jesuitenschüler sexuellen Missbrauch durch zwei Patres, die als Lehrer und Seelsorger tätig waren. Brauchte es dafür Mut?

Mertes: Dazu brauchte ich keinen Mut. Das war ganz klar, dass ich auf das Gehörte antworten musste. Und ich wollte es auch. Ich ahnte jedoch nicht, was für Folgen das über meinen kleinen Gesichtskreis hinaus haben würde.

KNA: Sie sagen, dass Machtmissbrauch und sexualisierte Gewalt an den Grundfesten von Kirche und Gesellschaft rütteln. Warum ist das so?

Mertes: Der Missbrauch hat in der Regel zwei Aspekte: Das eine ist der Missbrauch des Einzeltäters, und das andere ist die Rolle der Institution und des sozialen Umfelds, in dem diese Gewalt stattfindet. Wenn sexualisierte Gewalt aufgedeckt wird, kommt viel Unangenehmes zum Vorschein: Auch kirchliche Personalverantwortliche, die um die Dinge gewusst und Täter einfach versetzt haben. Menschen, die Symptome nicht richtig gedeutet haben. Und vielerorts gibt es noch immer ein nicht genügend entwickeltes Unrechtsbewusstsein gerade für diesen Aspekt des Missbrauchs.

KNA: Wo erkennen Sie Fortschritte im Umgang mit dem Thema?

Mertes: Ich coache derzeit einen jungen Priester, der im Messdiener-Lager seiner Pfarrei gehört hat, dass Leiter mit Jugendlichen ekelhafte Nacktspiele veranstaltet haben. Nach der Aufklärung des Falls kam sofort die Frage nach der Nachsorge für die Opfer auf. Und das ist es, was wir aus 2010 gelernt haben: Nicht einfach nur die Täter aufdecken und bestrafen, sondern fragen: Wie haben die Kinder das erlebt? Wie informieren wir die Eltern?

Im deutschsprachigen Raum gibt es diesbezüglich eine höhere Sensibilisierung an den kirchlichen Schulen. Inzwischen suchen staatliche Heime bei uns nach Rat. Oder: Heute sprechen wir als Lehrer in der Schule intensiv über die Frage, ob das Verhältnis Nähe-Distanz noch stimmt, wenn Lehrer mit Schülern über Facebook befreundet sind. Alkoholmissbrauch unter Jugendlichen sehen wir auch viel sorgfältiger an als früher, weil er oft verbunden ist mit demütigenden Riten und Gewalt. Vor 2010 wären das noch keine Themen gewesen, die einen Schul- oder Internatsbetrieb so ernsthaft beschäftigen wie heute.

KNA: Vor vier Jahren kam die Missbrauchs-Debatte ins Rollen. Noch immer ist eine seltsame Sprachlosigkeit unter katholischen Kirchenverantwortlichen zu beobachten - woher kommt sie?

Mertes: Die Erschütterung des Anfangs verklingt. Aber es werden weitere Erschütterungen kommen. Der Sprung aus der Sprachlosigkeit geht nicht ohne Schmerzen - auch das führt immer wieder zu Sprachlosigkeit, Veränderung des Selbstbildes. Zugeben, dass man weggeschaut hat oder Dinge nicht richtig gedeutet hat - das ist nicht leicht. Plötzlich ist man eben nicht mehr auf der Opferseite, sondern man hängt auf der anderen Seite mit drin. Das sind seelische Prozesse, die Zeit in Anspruch nehmen, zumal auch oft eine reale Ohnmacht zu sprechen vorliegt, die stärker sein kann als der individuelle eigene Wille. Das Aufbrechen von Schweigen hat immer etwas von Gnade - es kommt da etwas von Gott her auf uns zu.

KNA: Wie haben die letzten Jahre Sie verändert?

Mertes: Es war nicht leicht, mit den gehörten Geschichten der Opfer umzugehen und mit ihnen zu leben, bis heute. Ich musste auch den eigenen Heimatverlust verkraften. Mein Bild von Kirche, das ich hatte, war ja tief erschüttert worden. Auch frage ich mich: Wie kann ich das Vertrauen in bestimmte kirchliche Personen und Strukturen neu finden? Die Antwort lautete und lautet in einigen Fällen: Es geht definitiv nicht mehr. Diesen Vertrauensverlust habe ich akzeptieren müssen.

KNA: Warum sind Sie trotz aller negativen Erfahrungen noch immer katholisch?

Mertes: Ich habe Kraft geschöpft aus neuen Fragestellungen. Ich konnte mein Katholisch-Sein nicht mehr definieren durch die Erfahrung einer glücklichen katholischen Kindheit. Um die Kirche wieder zu lieben, habe ich mich ganz neu auf die Suche begeben nach positiven Kirchenerfahrungen. Ich habe auch die Kirche der Opfer entdeckt - diejenige von Menschen mit Gewalterfahrungen in der Kirche. Menschen, die sich zugleich ihre Kirchenzugehörigkeit nicht nehmen lassen und im Glauben Kraft finden. Ich habe eine unglaubliche Fülle von Zustimmung aus dem Raum der Kirche erhalten. Ich habe gemerkt: Ich bin ja gar nicht alleine!

So ist es mir übrigens auch bei der Lektüre des Schreibens von Papst Franziskus "Evangelii Gaudium" gegangen. Da spüre ich eine Nähe, die mich selbst überrascht. Jedenfalls: Ohne die Kirche hätte ich diesen Menschenreichtum in meinem Leben nicht. Gott erschließt sich mir vor allem durch die Menschen. Dieses Grundvertrauen bleibt.

Das Interview führte Vera Rüttimann.