Jesuitenpater Mertes zur Aufarbeitung des Missbrauchsskandals

"Die Kirche hat sich tief erschüttern lassen"

Jesuitenpater Klaus Mertes brachte vor genau zwei Jahren die Aufdeckung des Missbrauchsskandals in der katholischen Kirche mit ins Rollen. Er versucht im Interview eine Zwischenbilanz der Aufarbeitung zu stellen und benennt weitere notwendige Schritte, so müsse sich seiner Meinung nach die katholische Sexualmoral ändern.

 (DR)

KNA: Pater Mertes, sind Sie zufrieden mit den Konsequenzen und Lehren, welche die Kirche, der Jesuitenorden und die Jesuitenschulen in den vergangenen beiden Jahren in Sachen Missbrauch gezogen haben?

Mertes: Zufrieden kann man nie sein bei diesem Thema. Aber zumindest habe ich das Gefühl, wir haben getan, was wir tun konnten. Auch wenn das nicht bedeutet, dass dies allen Opfern ausreicht.



KNA: Sie standen und stehen in Kontakt mit zahlreichen Personen, die von katholischen Geistlichen missbraucht wurden. Können Sie hier eine vorläufige Bilanz ziehen?

Mertes: Es gibt verschiedene Gruppen: Opfer, die sich versöhnt haben - mit der Jesuitenschule, mit meinem Orden oder mit der katholischen Kirche insgesamt. Es gibt auch Opfer, die sehr dankbar sind für das, was in den vergangenen beiden Jahren passiert ist. Es gibt aber auch Opfer, die sich zornig abgewandt haben oder die von der Kirche angebotene Anerkennungssumme von 5.000 Euro empört als viel zu gering abgelehnt haben. Anderen wiederum hat diese Geste geholfen.



KNA: Haben die Verantwortlichen in der katholischen Kirche genügend getan?

Mertes: Es ist schwierig, sich als Vertreter der Kirche hier selbstzufrieden zu äußern. Ich denke, es ist viel geschehen, mehr als in allen anderen vergleichbaren Institutionen. Die Kirche ist beispielsweise die einzige, die überhaupt eine Antwort auf die Frage nach Entschädigung gefunden hat, auch wenn diese Antwort heftig kritisiert wird. Aber außer der Kirche hat niemand sonst, kein Land, kein Verein, keine staatliche Schule hier bislang eine Antwort gegeben. Und noch ein Gedanke ist mir wichtig: Zumal dann, wenn man unter Kirche die gesamte Gemeinschaft der Gläubigen versteht, dann ist deutlich geworden, dass sich Kirche tief hat erschüttern lassen von den Missbrauchsvorfällen und den Strukturen, die sie begünstigt haben. Das hat bei vielen Katholiken tiefe Fragestellungen ausgelöst.



KNA: Was fehlt aus Ihrer Sicht noch, was sollten weitere Schritte der Aufarbeitung sein?

Mertes: Dass wir nochmal genau hinhören, auf das, was die Opfer über die Kirche sagen. Uns damit weiter intensiv beschäftigen, was die systemischen Kontexte der Missbrauchserfahrungen sind.

Beispielsweise sagt mir ein Opfer: Ich sehe eine Mitverantwortung der katholischen Sexualmoral für den Missbrauch, weil ich auf Masturbation mit so starker Scham und Schuldgefühlen reagiert habe und daher nicht aussprechen konnte, was mir zugefügt wurde.



Für mich stellt sich daran anknüpfend die Frage: Wie können wir heute in der katholischen Religionspädagogik auf sexualethische Fragen neu eingehen? Diese Frage ist bislang nicht akzeptiert - da stehen uns noch Auseinandersetzungen bevor.



KNA: Müssten sich damit auch Inhalte der katholischen Sexualmoral verändern?

Mertes: Aus meiner Sicht eindeutig ja. Wir müssen doch beispielsweise einem Jugendlichen, der Opfer eines Übergriffs wurde und zugleich homosexuelle Lustempfindungen hatte, sagen können:  Deine homosexuelle Neigung ist nicht sündig! Auch die Frage nach dem Umgang mit geistlichen Ämtern und Amtsträgern muss neu reflektiert werden. Kult um religiöse Autoritäten, Anfälligkeit für Personenkult aller Art, auch um den Papst, fördert eine Atmosphäre des verdrucksten Schweigens.



KNA: Kann es beim Thema Missbrauch eine Art Schlussstrich geben?

Mertes: Nein, denn sexualisierte Gewalt und Machtmissbrauch sind ähnlich wie etwa Drogenmissbrauch ein ständiges Thema der gesamten Gesellschaft und damit auch der Kirche. Wenn man ein positives Ergebnis der vergangenen zwei Jahre festhalten will, könnte man sagen, dass es jetzt eine stabilere Aufmerksamkeit für das Thema Missbrauch in der Gesellschaft und in der Kirche gibt. Zum Beispiel ist nun unumstritten, dass es öffentliche Kontrolle über die Lehrer- und Erziehermacht in Schulen geben muss, sei es durch Einrichtung von Ombudsstellen oder Kooperationen mit entsprechenden außerschulischen Organisationen.



KNA: Haben die kirchliche Schulen ihre Hausaufgaben in Sachen Missbrauch also gemacht?

Mertes: Hier ist sehr viel geschehen. Ich denke, die kirchlichen Schulen haben hier die Nase vorn. Das merkt man daran, dass sich nun auch staatliche Schulen bei uns melden und fragen, wie geht ihr denn damit um?



KNA: Sollten die Erfahrungen aus der Aufarbeitung des Missbrauchs auch in den aktuellen Dialogprozess zur Zukunft der Kirche einfließen?

Mertes: Das würde ich mir wünschen. Eine Schlüsselfrage müsste sein: Welche neuen Erkenntnisse über uns selbst ergeben sich aus der Opferperspektive auf uns als Kirche? Oder: Was müssen wir bei uns ändern, um besser zuhören zu können, wenn Opfer sprechen. Denn die eigentlich entscheidende, bis heute quälende Frage ist doch: Was ist eigentlich geschehen, dass wir die Missbrauchstaten und das Leid der Opfer nicht gesehen und nicht begriffen haben? Ich bin immer wieder befremdet, wie wenig diese Frage bis heute öffentlich angegangen ist.



Das Interview führte Volker Hasenauer