Bund, Länder und Kirchen starten "Fonds Heimerziehung"

Keine Entschädigung, aber Hilfe

Ab sofort können ehemalige Heimkinder in Deutschland Anträge auf finanzielle Hilfen stellen. Bund, Länder und Kirchen starteten mit Jahresbeginn 2012 den "Fonds Heimerziehung in der Bundesrepublik Deutschland in den Jahren 1949 bis 1975". Betroffene, die in kirchlichen und staatlichen Heimen unter Misshandlungen und Missbrauch leiden mussten, können sich an Anlauf- und Beratungsstellen in den westdeutschen Bundesländern wenden.

 (DR)

Der Bundestag hatte Anfang Juli einen Fonds von 120 Millionen Euro beschlossen, der zu je einem Drittel vom Bund, den Ländern und den Kirchen, darunter Bistümer, Wohlfahrtsverbände und Orden, finanziert wird. Der Runde Tisch rechnet mit 30.000 Anspruchsberechtigten. Anträge können bis zum 31. Dezember 2014 gestellt werden.



In der Zeit von 1949 bis 1975 lebten etwa 700.000 bis 800.000 Kinder und Jugendliche in Säuglings-, Kinder- und Jugendheimen in der Bundesrepublik, davon bis zu 600.000 in kirchlichen Einrichtungen. In den vergangenen Jahren war aufgedeckt worden, dass viele von ihnen drakonische Strafen, Misshandlungen und Missbrauch erdulden mussten. Ein Heimkind zu sein, "blieb in der Geschichte der Bundesrepublik immer ein Stigma", heißt es in einer im vergangenen Mai vorgestellten Studie der Ruhr-Universität Bochum, die sich vor allem mit den Zuständen in kirchlichen Heimen befasst.



Massive Missstände

Massive Missstände haben der katholische Kirchenhistoriker Wilhelm Damberg und sein evangelischer Kollege Traugott Jähnichen dabei festgestellt. "Nicht wenige" Kinder und Jugendliche hätten die Heime als "totale Institutionen" erlebt, in denen sie eingeschränkte Rechte, drakonische Strafen sowie Demütigungen und Misshandlungen bis zu sexuellem Missbrauch erdulden mussten. Die Strafen reichten vom Essensentzug über die Isolierung bis zu Quälereien. So wurden einem Heimzögling nach einem Fluchtversuch die Haare abgeschnitten. Bei Bettnässern sei "das morgendliche Herumlaufen mit der nassen Bettwäsche vor den anderen Kindern und Jugendlichen überliefert", betont der Bericht.



Damberg und Jähnichen verweisen allerdings auch auf die damals geltenden Erziehungsvorstellungen und die Situation der Jugendhilfe in der Nachkriegszeit. So betonen die Kirchenhistoriker, dass Ordnung und Disziplin in den 50er Jahren einen hohen Stellenwert hatten. Insbesondere in den ersten Jahrzehnten seien die Heime finanziell und personell sträflich vernachlässigt worden.



Der Bericht der Kirchenhistoriker war ein Baustein dafür, dass die Gesellschaft das Leid vieler Heimkinder anerkennt. Ein Ziel, für das viele Betroffene lange vergeblich gekämpft hatten. Ausgelöst hatte die bundesweite Debatte 2006 ein Buch des Spiegel-Autors Peter Wensierski unter dem Titel "Schläge im Namen des Herrn". Der Petitionsausschuss des Bundestags befasste sich anschließend mit dem Thema. 2009 nahm der "Runde Tisch Heimerziehung" seine Arbeit auf. Auch Bundesländer setzten Forschungskommissionen ein, die das Schicksal der Heimkinder aufarbeiten sollten.



Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Erzbischof Robert Zollitsch, zeigte sich am Montag in Bonn über den Start des Fonds erleichtert. "Ich freue mich, dass nun ein Angebot für ehemalige Heimkinder vorhanden ist, das ihre zentralen Anliegen berücksichtigt: das Bedürfnis nach Aussprache, der Wunsch nach Anerkennung, Beratung und therapeutischer Hilfe sowie finanzielle Hilfen."



Erfolgreiche katholische Hotline

Zollitsch wies in diesem Zusammenhang auch auf die katholische Heimkinder-Hotline hin, die seit zwei Jahren Betroffenen die Möglichkeit bietet, sich zu persönlichen Fragen und Problemen in Bezug auf die eigenen Erfahrungen und Erlebnisse in Heimen in Trägerschaft der katholischen Kirche zu informieren und Beratung in Anspruch zu nehmen. Dieses Angebot, das bislang von rund 600 Personen in Anspruch genommen worden sei, bestehe vorerst weiter.



Der Fonds könne Betroffenen helfen, heute noch nachweisbare Folgen der Heimunterbringung zu überwinden, sagte Bundesfamilienministerin Kristina Schröder (CDU). Ähnlich äußerte sich der Präsident des EKD-Kirchenamtes, Hans Ulrich Anke. "Die Leistungen können nichts ungeschehen machen, aber sie sollen Menschen helfen, die Folgen besser zu bewältigen", sagte Anke.



Anlauf- und Beratungsstellen in den westdeutschen Bundesländern und Berlin beraten ab jetzt Betroffene und ermitteln den konkreten Hilfebedarf. Für Betroffene aus Säuglings-, Kinder- und Jugendheimen sowie Jugendwerkhöfen der ehemaligen DDR ist geplant, bis zum Sommer entsprechende Regelungen und Grundlagen zu schaffen.



Keine pauschale Entschädigung

Über den Fonds kann Betroffenen Hilfe gewährt werden, soweit durch die Heimerziehung heute noch Traumatisierungen oder andere Beeinträchtigungen und Folgeschäden bestehen und dieser besondere Hilfebedarf nicht über die bestehenden Hilfe- und Versicherungssysteme abgedeckt wird. Der Fonds sieht vor, so wenig Leistungen wie möglich in Geld auszuzahlen. 100 Millionen Euro sind für Sachleistungen vorgesehen, 20 Millionen fließen in Rentenersatzansprüche.



Manche der betroffenen Heimkinder allerdings hätten sich mehr gewünscht: Sie kritisieren, dass der Runde Tisch die Begriffe "Menschenrechtsverletzungen" und "Zwangsarbeit" in seinen Empfehlungen gemieden habe. Auch die jetzt in Kraft getretene Wiedergutmachungsregelung reicht ihnen nicht. Mit dem Fonds sollen zwar entgangene Rentenansprüche ausgeglichen und Therapien bezahlt werden. Pauschale Entschädigungen soll es aber nicht geben. Die Ex-Heimkinder beharren auf mehr. Sie fordern 300 Euro Monatsrente oder 54.000 Euro Einmalentschädigung.



Hinweis: Auf der Website zum Fonds sind ausführliche Informationen zum Fonds, zur Antragstellung und zu den Zuständigkeiten der Beratungsstellen zu finden. Ein kostenloses Infotelefon gibt Auskunft über die zuständige Beratungseinrichtung: Tel. 0800 1004900 (montags: 8 Uhr bis 14 Uhr; dienstags, mittwochs,

freitags: 16 Uhr bis 22 Uhr; sonntags: 14 Uhr bis 20 Uhr)