Canisius-Kolleg ein Jahr nach Offenlegung der Missbrauchsfälle

"Vertrauen ist spürbar gewachsen"

Vor genau einem Jahr begann die Missbrauchsdebatte in der katholischen Kirche in Deutschland. Damals unterrichtete Jesuitenpater Klaus Mertes, der Leiter des Berliner Canisius-Kollegs, erstmals die Öffentlichkeit. Seitdem ist viel passiert. Ein Besuch.

Autor/in:
Birgit Wilke
 (DR)

Das Bild ist Pater Klaus Mertes auch ein Jahr danach noch genau präsent: 850 Schülerinnen und Schüler richteten ihre Augen auf ihn, den Rektor des Berliner Canisius-Kollegs. Bei einigen sei deutlich Angst spürbar gewesen, als er von dem Brief erzählte, den er an ehemalige Schüler verschickte und in dem er von Fällen von Missbrauch und Misshandlung an der Schule in den 1970er und 1980er Jahren berichtete.



Lawine losgetreten

Dass er mit dem Schreiben zugleich eine Lawine lostrat und eine bis heute anhaltende, bundesweite Debatte über Missbrauch auslöste, sei ihm damals nicht im entferntesten bewusst gewesen, meint er rückblickend. "In der Turnhalle der Schule ist es im vergangenen Januar darum gegangen, 10- bis 19-Jährigen zu erklären, was sexuelle Gewalt ist und warum Opfer oft so lange brauchen, um über Missbrauch zu sprechen", erinnert sich Mertes. Den Jüngeren musste er klar machen, dass bei sexuellen Übergriffen meist "keine Monster um die Ecke lauern". Manche Schüler stellten die Frage, was sie mit den Ereignissen vor 30 oder 40 Jahren zu tun hätten. Weitere Diskussionen auch mit Lehrern folgten. "Es war für uns alle ein unglaublich schmerzhaftes Geschehen", so der 56-Jährige.



In diesem Januar wirkt er ruhig und aufgeräumt. "Insgesamt ist das Vertrauen in die Schule durch unseren Kurs spürbar gestärkt worden", bilanziert er. Auch das Lehrerkollegium, das zeitweise über den Umgang mit den Fällen gespalten gewesen sei, sei wieder zusammengewachsen. Und beim jüngsten Ehemaligentreffen sei das Thema offen angesprochen worden. Rund 200 Opfer an den damals bundesweit vier Jesuitengymnasien meldeten sich in den vergangenen Monaten, etwa 90 waren es im Falle des Canisius-Kollegs. Hier waren vor allem zwei Patres übergriffig geworden.



Weitere Schritte gegangen

Mertes hatte sich nach einem Gespräch mit drei Ehemaligen vor einem Jahr entschlossen, die Fälle öffentlich zu machen und weitere Opfer zu ermutigen, sich bei der Schule zu melden. Bereits seit 2007 gab es mit Rechtsanwältin Ursula Raue eine Ansprechpartnerin für Opfer sexueller Gewalt an der Jesuitenschule - auch deshalb, weil immer wieder Gerüchte über Missbrauch hochgekommen waren. Im Nachhinein ist Mertes überzeugt, dass "es bei uns aufgebrochen ist, weil wir in den vergangenen Jahren die Strukturen dafür geschaffen haben".



Das Canisius-Kolleg beließ es aber nicht bei der Anlaufstelle, sondern unternahm weitere Schritte, um Missbrauch zu verhindern. So wurde ein Lehrer beauftragt, die Präventionsarbeit zu verstärken.

Mitarbeiter von Opferverbänden kommen an die Schule, Lehrer erhalten spezielle Fortbildungen, Richtlinien wurden erarbeitet. Jüngst gehörte das Gymnasium auch zu den Gründungsmitgliedern eines Netzwerks Kinderschutz zusammen mit anderen katholischen Schulen und Einrichtungen des Erzbistums Berlin.



Von Anfang an zählte sich Mertes als Ordensmitglied zur Täterseite, eine Einstellung, die so mancher Mitbruder oder Lehrerkollege nur schwer nachvollziehen konnte. Der Orden habe Schuld auf sich geladen und trage damit Verantwortung, auch für Opferhilfe, meint er.

Deshalb springe er schon jetzt ein, wenn etwa Krankenkassen Betroffenen eine Therapie nicht bewilligten. Mertes ist auch zuzurechnen, dass der Jesuitenorden als erste katholische Institution in Deutschland eine Entschädigung in Höhe einer "vierstelligen" Summe anbot.



Wieder Ruhe eingekehrt

Im Canisius-Kolleg ist wieder Ruhe eingekehrt, die Anmeldezahlen sind ungebrochen hoch, berichtet Mertes. Dennoch ist das Thema Missbrauch für Lehrer, Schüler und Eltern weiterhin nicht abgeschlossen. Der "Eckige Tisch", zu dem sich Missbrauchsopfer der Jesuitenschulen zusammenschlossen, fordert über 80.000 Euro für jeden Betroffenen. Immer wieder übt er auch Kritik an Raue, so dass zwischenzeitlich mit der Ex-Gesundheitsministerin Andrea Fischer

(Grüne) eine weitere Gutachterin der Missbrauchsfälle eingeschaltet wurde.



Mertes, der im Mai nach 17 Jahren das Canisius-Kolleg verlässt und zum kommenden Schuljahr die Leitung des Jesuitengymnasiums Sankt Blasien im Schwarzwald übernimmt, lässt keinen Zweifel daran: "Die Missbrauchsfälle werden immer ein Teil der Schulgeschichte bleiben".