Kardinal Lehmann sieht tiefgreifende Krise der Kirche

"Ich tappte oft lange im Dunkeln"

Der Mainzer Kardinal Karl Lehmann sieht die katholische Kirche wegen der Missbrauchsfälle in einer tiefgreifenden Krise. In der FAZ schreibt Lehmann, die Kirche dürfe sich nicht wundern, wenn sie jetzt an jenen Kriterien gemessen werde, mit denen sie sonst ihre sittlichen Überzeugungen vertrete.

 (DR)

«Die aufgedeckten Missbrauchsfälle wirken wie ein Bumerang», so der Kardinal. Zugleich bekundet Lehmann Erleichterung, «dass nun vieles an den Tag kommt».

Mit Blick auf seine Aufgabe als Bischof von Mainz schreibt er: «Ich tappte oft lange im Dunkeln, auch wenn ich noch so sehr um Aufklärung bemüht war.» Die Täter schwiegen eisern, «viel mehr als jeder Alkoholiker», viele Opfer vermochten es nicht, sich jemandem anzuvertrauen. Umso mehr müsse heute die Zuwendung zu wirklichen oder möglichen Opfern im Vordergrund stehen.

"Unverzeihliche Praktiken"
Zugleich gesteht Lehmann ein, dass die Kirche ebenso wie die Wissenschaft Pädophilie und damit auch die Fähigkeit von Tätern zur Umkehr und zur Heilung lange Zeit überschätzt habe. «Im guten Glauben haben wir uns oft auf den erklärten guten Willen verlassen. Deshalb kam es auch zu den falschen und schon seit längerer Zeit gewiss unverzeihlichen Praktiken, einen überführten und manchmal auch rechtskräftig verurteilten Täter einfach an eine andere Stelle zu versetzen.»

Lehmann nennt es tragisch, dass die Lehre der Kirche zwar nie einen Zweifel daran geduldet habe, dass jede Form von sexuellem Missbrauch verwerflich sei, «die Verantwortlichen in der Kirche im eigenen Umfeld in manchen Fällen aber doch nicht mit der letzten Akribie und Unabhängigkeit lückenlose und unbestechliche Aufklärung betrieben haben».

"Hier und da Kumpanei"
Der frühere Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz führt diesen Umstand auf mehrere Ursachen zurück: die Einstellung, «sich mehr um die Täter kümmern zu müssen als um die Opfer», den Versuch «durch schnelles Abwehren und Verdecken eines Verdachts oder gar einer Verfehlung die Institution Kirche und gerade auch Amtspersonen, unter allen Umständen vor einem Makel zu bewahren» sowie hier und da «Kumpanei», wie sie in manchen geschlossenen Systemen" möglich sei.

Zugleich nimmt Lehmann die Bischöfe gegen der Vorwurf der Untätigkeit in Schutz. Die seit 2002 geltenden Leitlinien der Bischofskonferenz hätten sich im Grundsatz bewährt. Zu bedenken sei bei einer Revision, ob die kircheninternen Ermittlungen in neutrale Hände gelegt und ob die Zusammenarbeit mit den Strafverfolgungsbehörden in jedem Einzelfall zur Pflicht gemacht werden sollten.

Gefahr längst erkannt
Bedacht werden muss nach den Worten des Kardinals, «inwieweit die priesterliche Lebensform in höherem Maß pädophil veranlagte Männer anziehen kann, zumal im Blick auf ein Engagement in kirchlichen Einrichtungen». Dort bestehe nicht nur die Möglichkeit, vielen Kindern in einem geschützten Raum zu begegnen, sondern auch die Aussicht, durch seelsorgliche Diskretion und die gesellschaftliche Tabuisierung unentdeckt zu bleiben. «Die Verantwortlichen unserer Ausbildungsstätten haben diese Gefahr längst erkannt», versicherte Lehmann.

Erzbischof Marx: Missbrauch hat Kirche tief erschüttert
Die bittere Erkenntnis über Missbrauch und Misshandlungen an Kindern und Jugendlichen hat auch nach den Worten des Münchner Erzbischofs Reinhard Marx die Kirche tief erschüttert. Das sei jedoch nicht mit dem Schmerz derjenigen zu vergleichen, die selbst missbraucht oder misshandelt worden seien, sagt Marx in einer Hörfunkansprache für den Bayerischen Rundfunk, die am Karsamstag ausgestrahlt wird. Den Opfern gelte deshalb das besondere Mitgefühl, auch wenn die Ereignisse oft viele Jahre zurücklägen.

Für viele Gläubige sei in diesen Wochen das Vertrauen in die Gemeinschaft der Kirche in eine Krise geraten, räumt Marx ein.
Manche zweifelten auch in ihrem Glauben an einen menschenfreundlichen Gott, der doch gerade in der Gemeinschaft der Kirche erfahrbar werden solle. Schließlich hingen christlicher Glaube und konkretes Handeln zusammen. «Mit all diesen Sorgen und Fragen sollen wir nun Ostern feiern?» fragt der Erzbischof.

Mit dem österlichen Glauben, dass Jesus nach seinem Leiden und Sterben die Sünde und den Tod ein für alle Mal besiegt habe, würden die Menschen nicht einfach «besser», so Marx. «Wir bleiben alle Sünder.» Aber Gott eröffne mit Christus den Horizont des unzerstörbaren Lebens. Nicht mehr nur das Ich zähle, sondern im Zentrum stehe die Liebe, die jeder Mensch durch Gott erfahre. Deshalb dürfe sich kein Mensch eines anderen bemächtigen und seine Würde verletzen, betont der Erzbischof.