Pater Mertes' differenzierte Sicht auf das System Kirche

"Der Hirte muss die Schafe vor dem Wolf schützen"

Pater Mertes hat 2010 den Stein der Aufarbeitung sexualisierter Gewalt ins Rollen gebracht, das Bundesverdienstkreuz hat er dafür jüngst erhalten. Im Interview erläutert er, wie sich Kirche verändern müsste, um Missbrauch nachhaltig zu bekämpfen.

Pater Klaus Mertes / © Julian Stratenschulte (dpa)
Pater Klaus Mertes / © Julian Stratenschulte ( dpa )

DOMRADIO.DE: Gerade haben Sie von Bundespräsident Walter Steinmeier zusammen mit Matthias Katsch das Bundesverdienstkreuz verliehen bekommen. Was hat Sie gefreut?

Pater Klaus Mertes (ehem. Leiter des Berliner Canisius Kollegs): Ich habe mich gefreut, dass durch diese Ehrung der Bundespräsident stellvertretend für die Öffentlichkeit etwas ausgesprochen hat, das ich von meiner Seite her so nicht aussprechen könnte. Nämlich, dass er etwas Gemeinsames gesehen hat bei Matthias Katsch als Vertreter des Eckigen Tisches, also der Opferinstitution von Jesuitenschulen und mir. Obwohl wir ja zugleich auch eine konflikthafte Geschichte hinter uns haben. Ich habe das für mich dann so gedeutet, dass es gelungen ist, bei bleibenden Interessen und Meinungsverschiedenheiten doch den Respekt voreinander zu wahren und dadurch gemeinsam auch etwas ins Rollen gebracht zu haben. Das hat mich sehr gefreut.

DOMRADIO.DE: In ihrer Dankesrede erzählen Sie, dass das Erkennen von Missbrauch ein Prozess sei.

Mertes: Im Evangelium gibt es eine Blindenheilung und nach der ersten Berührung des Blinden durch Jesus sagt der Blinde, er sehe Menschen, die wie Bäume aussehen und herumgehen. Und dann bedarf es einer zweiten Berührung, bis er dann geheilt ist und tatsächlich die Menschen sieht, so wie sie sind. Und mir ist es eben auch so gegangen. Ich hatte vor 2010 mit Missbrauchsbetroffenen aus ganz anderen Kontexten, z. B. als Lehrer gegenüber Schülern und Schülerinnen aus familiären Kontexten, zu tun. Und erst nach 2010 habe ich begriffen, dass das ja sexueller Missbrauch war. Was die erlebt haben, also die Gewalt des sexuellen Missbrauchs, ist etwas, was sich einem nicht auf den ersten Blick erschließt. Und das ist mir 2010 nochmal ganz deutlich geworden, als es sich mir durch die Erzählung der drei Männer, die bei mir waren, erschlossen hatte.

DOMRADIO.DE: Mein Eindruck ist, dass es ganz viele Menschen gibt, die das Wort hören und auch irgendwie etwas Schreckliches damit verbinden, aber nicht wissen, was es bedeutet.

Mertes: Es ist eben ganz schwer vorstellbar, dass es eine Gewalttat ist, die im Nahbereich geschieht. Die meisten verwechseln sexuellen Missbrauch mit Vergewaltigung: Also ein als Täter erkennbarer Täter tut einem Opfer etwas an und das Opfer erkennt in dem Moment, wo es ihm angetan wird, dass es Gewalt ist. Aber so ist es nicht, sondern im ersten Moment entsteht zunächst einmal eher der Eindruck, dass die Gewalttat ein Ausdruck von Liebe ist oder eine gerechte Strafe für eine Schuld, die man auf sich geladen hat, von einer entsprechend gerecht handelnden und strafenden Autorität. Oder dass es eine pädagogische, sinnvolle Maßnahme ist, die dem eigenen Wachstum dienen sollte. Man stimmt dem ja gefühlsmäßig zu.

Warum nicht reagiert?

Ganz oft ist es sogar so, dass ich als Jugendlicher ja meinerseits zuerst einmal auf den Täter zugehe, weil es mein Lieblingspater ist oder mein Lieblingsonkel oder meine Mutter oder mein Vater oder wer auch immer. Und weil ich da die Geborgenheit suche. Und in der Geborgenheit erfahre ich etwas, was ich selbst als Betroffener oder als Betroffene gar nicht als Gewalt verstehe. Das erschließt sich mir ja auch als Betroffenem erst nachträglich. Und umso schwieriger ist es dann ja für die Dritten, die Beteiligten, das zu begreifen. Und das Zweite, was so schwer zu begreifen ist: Warum haben diejenigen, die es gesehen haben und es hätten deuten können, weil sie erwachsen waren, weil sie mehr sehen konnten als ich, nicht reagiert? Also auch sofort diese Erfahrung, dass ich vollkommen allein war mit dieser Erfahrung.

DOMRADIO.DE: Es geht also darum, wie wir alle besser, adäquater und in der Folge vielleicht auch leichter damit umgehen können. Zu erkennen, dass es für jeden ein Prozess ist, ist schon mal hilfreich, oder?

Mertes: Ja, und das ist ganz wichtig, denn der Gang in die Öffentlichkeit ist ja erstens einmal für die Betroffenen selbst ein riesiger Schritt. Ich rede jetzt mal nicht von den Betroffenen im Moment, wo sie noch selbst gar nicht begreifen, was ihnen angetan worden ist, wenn sie stotternd versuchen, ihren Eltern etwas zu erzählen und dann zurückgewiesen werden. Sondern ich rede von denen, die 20 Jahre später plötzlich im Rahmen einer Therapie begreifen, dass das, was sie erlebt haben, ja Gewalt war und die dann aber vielleicht inzwischen verheiratet sind und Kinder haben. Und die Familie möchte nicht, dass sichtbar wird, dass der Vater oder die Mutter Betroffene von sexualisierter Gewalt sind. Die Betroffenen outen sich ja, wenn sie sich outen, in einem sozialen System, in dem sie leben. Und dieses soziale System möchte es ja gar nicht, dass sie sichtbar werden als Opfer. Das ist ja schon mal ein Riesenproblem, zumal sie dann ja in die Mitverantwortung gezogen werden. In dem Moment, wo sie vielleicht auch schon damals, zu dem Zeitpunkt, als es geschehen war, dabei waren, also die Eltern zum Beispiel oder im Falle der Schule die Lehrer, die damals unterrichtet haben.

Warum habe ich nichts gesagt?

Da waren zwei Patres unterwegs, die Verbrechen an über 100 Jugendlichen begangen haben. Keiner von den Kollegen hat es gesehen, sie haben es aber vielleicht gehört und gespürt und haben nichts getan. 20 Jahre später hören sie das und dann merken sie natürlich sofort: Oh, warum habe ich das nicht gesehen? Oder habe ich das doch damals gesehen? Warum habe ich nichts gesagt? Es kommen also Schuldgefühle auf und Schuldgefühle machen aggressiv. Wichtig ist in diesem Zusammenhang: Opfer haben in dem Moment, wo sie sprechen, ein Schutzbedürfnis und das muss respektiert werden. Es gibt auch so einen radikalen, brachialen Aufklärungskurs, der die Schutzbedürfnisse von Betroffenen nicht respektiert. Und das hat sehr oft etwas damit zu tun, dass diejenigen, die diesen brachialen Kurs fahren, gar nicht begreifen was das ist, "Opfer sein", sondern sich einfach denken, sich für eine gerechte Sache einzusetzen, mit großen Ellenbogen nach vorne preschen und dabei dann wieder die Opfer im Grunde genommen ins Schweigen runterdrücken oder auf den Missbrauch ihrer eigenen Vorstellungen packen. Und damit letztlich wieder nur zeigen, dass sie nicht begriffen haben, worüber sie reden.

DOMRADIO.DE: Gewalt an Kindern und Jugendlichen erschreckt die Menschen ja immer. Aber sexualisierte Gewalt erschrickt auch aus all den Gründen, die Sie gerade schon gesagt haben, ungleich mehr. Was passiert, wenn Menschen einer Gemeinde plötzlich erfahren, dass ein Priester vor Jahrzehnten ein Kind vergewaltigt hat?

Mertes: Ja, das ist natürlich ein riesiges Erschrecken. Zunächst einmal ist es eine Information, die man gar nicht zur Kenntnis nehmen möchte, weil einem selbst vielleicht dieser Priester sehr viel bedeutet und weil man sich ihm anvertraut hat, weil man ihm vielleicht sogar sehr viel verdankt. Und dann kann nicht sein, was nicht sein darf, und dann wird das zuerst einmal abgewehrt.

Man will sie nicht hören

Das ist ja die Erfahrung, die Opfer machen, wenn sie sprechen. Sie wollen nicht gehört werden. Sie haben ja eine Botschaft, die das Selbstbild und die gesamte eigene Geschichte extrem infrage stellt. Wenn es sich dann aber doch herausstellt, dass es stimmt, und wenn sich dann auch nochmal herausstellt, dass Autoritäten darum wussten und trotzdem den Priester und die Gemeinde geschickt haben oder gelassen haben, dann führt das natürlich zu einer ganz massiven Vertrauenskrise nicht nur gegenüber dem Täter, sondern noch mehr gegenüber der Institution. Und das ist die Situation, in der sich die Kirche befindet. Die hat vor allem ein institutionelles Vertrauensproblem.

DOMRADIO.DE: Im Erzbistum Köln hat sich ein beschuldigter Priester das Leben genommen. Sie hat das zornig gemacht. Wieso?

Mertes: Ich kenne Geschichten, wo ein Opfer sich entschieden hat, nach langen, langen, quälenden Jahren auf den Priester, der es als Messdiener missbraucht hat, zuzugehen und ihn zu konfrontieren. Und der Priester, inzwischen über 80 Jahre alt, im Pflegeheim wohnend, begeht Suizid, um sich dem Gespräch zu entziehen. Und das hat bei der betroffenen Person unglaubliche Schuldgefühle hinterlassen. Suizid ist nicht einfach nur ein Akt, den ich mir selbst gegenüber begehe, sondern auch gegenüber Menschen, gegenüber denen ich eine Verantwortung habe, für die ich mitverantwortlich bin. Die ganze Schuld wird auf das Opfer, das spricht, zurückgezogen. Und das lenkt dann auch den Zorn des Systems wieder auf das Opfer, das sprechen wollte. Diese Konstellation macht mich zornig.

"Kampf um Leben und Tod"

Ich hatte selbst mit einem Fall zu tun, eines Mitbruders, wo ich von hochrangigen Personen gewarnt wurde, wenn ich den Mitbruder beschuldige, würde er Suizid begehen. Da habe ich selbst den Druck verspürt, wie es ist, dass Aufklärung dazu führen kann, dass man beschuldigt wird für Suizide, die die Täter begehen. Weil natürlich die Information, die dadurch öffentlich wird, vernichtenden Charakter hat und weil, das gebe ich auch sofort zu, die Öffentlichkeit ja auch nichts anderes zu bieten hat als Verurteilung und Pranger. Nur das kann nicht der Grund sein, dann wiederum die Betroffenen ins Schweigen zurückzudrücken. Da wird ein Kampf um Leben und Tod geführt.

In dem Moment, wo ein Täter da ist, muss der weg, weil der natürlich das ganze System Familien oder Kirchen oder Sportvereins beschmutzt. Dahinter steht aber genau wieder dieser institutionelle Narzissmus: Wir sind die Reinen und die Unreinen müssen rausgeschmissen werden. Wir müssen natürlich auch gucken, wie können wir mit Tätern leben? Wir müssen lernen zu leben mit der Tatsache, dass es Täter gibt, die zu uns gehören. Wir müssen aufhören, uns in diesen Gedanken zu verlieben, dass es Orte gibt, wo keine Täter sind. Das ist ein Menschheitsproblem. Deswegen ist ja Aufklärung auch so unwillkommen, weil es einen vor dieses Dilemma stellt.

DOMRADIO.DE: Wann haben Sie begriffen, dass es in der Kirche ein System gibt, das sexualisierte Gewalt zulässt?

Mertes: Das habe ich begriffen, als ich gesehen habe, dass das System auf die Gewalt nicht reagiert, wenn sie sie sieht. Ganz einfach. Und dafür muss es ja Gründe geben.

DOMRADIO.DE: Das heißt, das war schon 2010 so?

Mertes: Ja, es war ganz deutlich. Die Jugendlichen hatten damals versucht zu sprechen und sind nicht gehört worden. Und dann, als sie dann doch gehört wurden, hat man die Täter schnell entfernt, in Therapie geschickt und in die nächsten Schulen geschickt. Da haben sie weitergemacht. Das System reagiert nicht angemessen auf die Gewalt. Und das muss tiefere Gründe haben. Mich interessieren am meisten die systemischen Gründe, die haben im Kern mit dem Problem des Imageverlusts für die Institution zu tun. Dann will ich aber noch tiefer die Unfähigkeit verstehen. Ich nenne ein Beispiel: Im kirchlichen Kodex werden sexuelle Übergriffe gegenüber Jugendlichen abgespeichert unter Bruch des Zölibats, nicht unter Gewalt.

Statt sexueller Gewalt nur Bruch des Zölibats?

Das heißt, die ganze Logik, mit der ich das, was Kindern und Jugendlichen mir erzählen, höre, speichert das ab unter so etwas ähnlichem wie Ehebruch oder so. Aber nicht unter Gewalt, die im Grunde genommen eine Form extremer Gewalt ist. Das wäre so ein systemischer Grund. Und dann kommt das Thema Homosexualität mit hinein. Und das ist natürlich ein Schreckensthema in der Kirche, denn es darf ja homosexuelle Priester gar nicht geben. Und dann hat man schon sofort die homosexuellen Priester zu Tätern abgestempelt und dann ist man schon wieder täterfixiert und von den Opfern weg. Was das für die Opfer bedeutet, ist völlig egal. Und so war es ja auch am Canisius-Kolleg. Der Täter wurde schnell entfernt. Wenn man zugehört hätte, hätte man sofort wissen können: Es muss dann ja mindestens 100 Opfer geben. Die hat man einfach vergessen. Also dieses einfache Vergessen der Opfer, weil man auf den Täter fixiert ist, das ist so einer der systemischen Gründe, der es einem unmöglich macht, das zu verstehen.

DOMRADIO.DE: Wann haben Sie gemerkt, es gibt systemische Gründe?

Mertes: Ich unterscheide systematisch und systemisch. Die Täter haben systematisch pastorale und pädagogische Systeme aufgebaut, um am Ende Jugendliche in die Falle zu locken und sie zu missbrauchen. Das Systemische war mir schon klar, als die Fälle in den USA publik wurden.

DOMRADIO.DE: Wenn man begreift, dass das im System angelegt ist, dass man die Opfer vergisst, dann erschrickt man ja noch mehr.

Mertes: Und das ist im Fall der Kirche ja besonders absurd, weil ja vom Evangelium her die Opfer im Mittelpunkt stehen. Ich habe das manchmal mit dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter verglichen. Man ist ja gerne bereit, sich für Opfer einzusetzen, wenn sie Opfer von Gewaltverhältnissen sind, für die man keine Verantwortung trägt. Das führt einen weg davon, zu gucken, wo denn eigentlich meine eigenen Täter oder Mittäter und mitverantwortlichen Anteile daran sind, dass das Opfer zum Opfer wurde.

Machen wir uns zu Komplizen?

DOMRADIO.DE: Die Macht liegt in der katholischen Kirche nicht bei den Laien, erst recht nicht bei den Frauen. Unter diesen Bedingungen bei diesem System zu bleiben - macht mich das nicht zur Komplizin in einem System, auf das ich keinerlei Einfluss habe?

Mertes: Ich gehöre ja auf eine andere Weise zum System, weil ich mit auf der Machtseite stehe. Ich bin ja katholischer Priester. Ich gehöre zum System. Für mich hat sich diese Frage nicht gestellt, weil sie die Flucht aus der Verantwortung wäre. Aber ich verstehe, dass Menschen austreten, um zu verhindern, dass sie Komplizen werden. Ich möchte darüber auch nicht urteilen. Aber es gibt keine Möglichkeit zur Veränderung des Systems, wenn es nicht Kräfte auch von innen her gibt, die an der Veränderung arbeiten. Die Frage ist ja, was die Betroffenen brauchen. Und die brauchen nicht meine von mir selbst organisierte Unschuld. Wie helfen wir denen? Es gibt ja ganz viele Betroffene in der Kirche, die ja nach wie vor in der Kirche bleiben wollen oder in ihr sind. Um es klar zu sagen: Man glaube nicht, dass es irgendein System außerhalb der Kirche gibt, in dem es das nicht gibt. Also diese Vorstellung, dass ich als Einzelexistenz nirgendwo Komplize werde, ist eine Illusion.

Ich glaube, dass man sich nicht zu schnell als machtlos definieren sollte. Da hilft mir schon auch der Blick aufs Evangelium. Es gibt eine Macht der Ohnmächtigen. Ich glaube, da darf man sich nicht unterschätzen.

DOMRADIO.DE: Das Erzbistum Köln hat nun ein Gutachten zum Umgang mit Fällen von sexualisierter Gewalt veröffentlicht. Hat Sie der Inhalt des Gutachtens erschüttert?

Mertes: Ja, es ist erschütternd zu sehen, wie vollkommen hilflos die Verantwortlichen im Umgang mit Gewalt sind. Das System hat nicht die Kompetenz, nicht die Fähigkeit, gegen Gewalt vorzugehen. Es definiert sich selbst als ohnmächtig gegenüber der Gewalt. Am Ende sagen sie den Betroffenen, man könne leider nichts tun. Und damit sind wir wieder beim Thema Ohnmacht. Aber das kann doch nicht sein. Wenn die Institution nicht in der Lage ist, den Zweck zu erfüllen, wegen dem sie existiert, nämlich die Schwachen vor den Starken zu schützen, dann ist das wirklich eine Katastrophe.

DOMRADIO.DE: Warum können sie leider nichts tun?

Mertes: Weil sie die juristischen Mittel nicht haben. Weil sie Angst vor den Konflikten haben, wenn sie da einschreiten. Es ist ja ganz klar, Täter sind ja nie irgendwelche Monster, sondern oft hoch beliebte Menschen, die dann in den Gemeinden Unterstützergruppen haben. Das führt zu riesigen Konflikten. Dann wird man, wenn man interveniert, gegen Gewalt natürlich selbst auch gewalttätig angegangen von den Unterstützergruppen. Um es mit dem Bild des Hirten zu sagen: Der Hirte muss die Schafe vor dem Wolf schützen, muss sich dem Wolf stellen. Das heißt, er muss sein eigenes Leben gefährden.

"Dann muss ich mich dem Wolf in den Weg stellen!"

Das ist das erschreckende Bild, das ich sehe. Das ist die pure Ohnmacht und Angst. Angst vor Aggression. Ich sage ja nicht, dass die Ängste unberechtigt sind, aber das muss man, wenn man in der Verantwortung steht, bringen. Wenn mein Auftrag ist, die Schafe vor den Wölfen zu schützen, dann muss ich mich dem Wolf in den Weg stellen. Das darf man ja nicht unterschätzen: Da sind vielleicht auch Freunde von mir selbst betroffen. Dann zerbrechen auch meine Freundschaften, dann zerbricht mein soziales Gefüge. Wenn ich mich für Betroffene einsetze, bringt es auch mein eigenes Freundschafts- und soziales Gefüge ins Zerbrechen. Die Gewalt ist gewaltig, der ich da entgegenzutreten habe, wenn ich interveniere. Das macht Angst. Und genau das ist dann dieses Ohnmachtsgefühl.

DOMRADIO.DE: Dieses Kölner Gutachten zeigt klar, bei Laien wussten alle genau Bescheid. Aber bei Priestern nicht.

Mertes: Das ist der Klerikalismus. Eine besondere Loyalitätspflicht gegenüber einem Bund von Männern, der sich dann nicht mehr den Kriterien stellt, die er selbst auf andere anlegt. Im Evangelium ist das die Heuchelei.

DOMRADIO.DE: Wer muss denn in diesem Fall welche Verantwortung übernehmen? Was heißt das denn, Verantwortung zu übernehmen?

Mertes: Für mich hieß es ganz konkret, den Betroffenen zuzuhören und mich zu entscheiden, ob ich ihnen glaube oder nicht. Das war die erste Verantwortung. Die zweite Verantwortung war, nachdem ich mich entschieden habe, ihnen zu glauben, meinen Anteil an der Aufklärung zu leisten, indem ich Verfahren eröffne, die es Betroffenen möglich macht zu sprechen, damit ihre Geschichte von der Institution anerkannt wird. Das ist ja ganz wichtig für die Betroffenen. Das Dritte ist, ihnen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, da, wo es möglich ist. Also Täter der Strafe zuführen, wo das noch möglich ist, wenn die Taten nicht verjährt sind. Und sich den Ansprüchen, die sie haben, zu stellen. Das sind Entschädigungsfragen, Fragen nach therapeutischen Hilfen, Geldfragen. Im Fall der Fälle gehört vielleicht auch dazu, zu erkennen, dass ich selbst so sehr verantwortlich im System und so sehr verstrickt in die Geschichte bin, dass ich die Verantwortung nicht mehr selbst glaubwürdig repräsentieren kann. Und dann kommt die Rücktrittsfrage. Die darf aber nicht verwechselt werden mit einer Flucht vor der Verantwortung. Das ist ja der einfache Weg, zurückzutreten und dann müssen andere das aufarbeiten.

Aber es muss auch klar sein, wofür die Kirche Verantwortung nicht übernimmt. Und das ist ja auch das Problem von Köln. Der Kirche steht in dieser Angelegenheit im Täter-Opfer-Ausgleich zwischen Institution und Opfern keine richterliche Funktion zu. Das heißt, Verantwortung zu übernehmen würde auch bedeuten, Verantwortung aus den Händen zu geben in eine unabhängige Institution, die Verantwortung nimmt für Rechtsprechung und Rechtskultur in diesem Bereich. In einer monarchischen Kultur ist das nicht möglich. Und da bedeutet Verantwortung zu übernehmen auch, die Anteile von Verantwortung, die sie nicht mehr übernehmen kann, weil sie ja Teil des Problems und nicht der Lösung ist, dann tatsächlich an unabhängige Institutionen weiterzugeben.

Nicht die Wiedergewinnung der Glaubwürdigeit hat höchste Priorität

DOMRADIO.DE: Gerade erscheint ein neues Buch von Ihnen. Sie haben es "Den Kreislauf des Scheiterns unterbrechen" genannt. Warum gibt es nicht wie bei einem Kreisverkehr einen Ausgang, wo man rausfahren kann aus dem Scheitern?

Mertes: Es ist ja für die Menschen in der Kirche unglaublich ermüdend zu erleben, wie das jetzt seit elf Jahren geht. Es ist immer wieder ein Skandal, ein Scheitern nach dem anderen. Obwohl auch so unglaublich viel Gutes geschieht, gerade im Präventionsbereich. Es hat ja keine Institution in der Gesellschaft gegeben, die das Thema so ernst nimmt wie die katholische Kirche. Und das ist gerade für die, die in diesem Bereich arbeiten, schrecklich. Die befassen sich ständig mit diesem Thema und haben ganz viel Gutes getan, haben sehr viel geändert. Und dann kommt so etwas wie in Köln und dann ist die ganze Glaubwürdigkeit auch ihrer eigenen Arbeit weg. Und man ist wieder am Scheitern. Warum wollen wir als Kirche die sexualisierten Gewalttaten aufarbeiten? Was ist der eigentliche Grund? Und ich höre immer wieder, weil Glaubwürdigkeit wiedergewonnen werden soll. Und wenn das der Grund ist, dann sind wir wieder bei uns selbst. Dann geht es uns um uns. Und dann muss es scheitern, weil die Betroffenen das spüren, dass es nicht um sie geht, sondern um die Kirche.

Ich glaube nicht, dass der Glaubwürdigkeitsverlust der Kirche ein Gewinn für die Gesellschaft ist. Überhaupt nicht, das ist ein riesiger Schaden für die Gesellschaft. Nur es geht hier um das Problem der Gestaltung der Beziehung zu den Betroffenen. Die Frage nach der Gerechtigkeit für sie muss angegangen werden. Und solange die nicht angegangen werden, können wir in der Prävention und in den Strukturfragen machen, was wir wollen. Wir können stundenlang über den Zölibat diskutieren, über das Frauenpriestertum. Aber am Ende muss erst mal die Gerechtigkeit für die Betroffenen her. Und die interessieren sich nicht für die Fragen, die dann im kirchlichen Diskurs angehängt werden. Da liegt das Problem.

DOMRADIO.DE: Schauen wir auf die Frauenfrage, die Frage nach der Zulassung der Frauen zur Diakonen- und Priesterweihe.

Mertes: Es besteht kein Zweifel daran, dass die männerbündische Struktur in der katholischen Kirche beim Klerus ein systemischer Hintergrund ist für die Vertuschungsvorgänge, die wir jetzt beobachten. Aber das ist doch nicht der Grund, warum wir jetzt Frauen zu Priestern weihen wollen. Der Grund dafür ist doch die gleiche Würde von Mann und Frau. Die Frauenfrage ist doch nicht nur eine instrumentelle Frage in Bezug auf die strukturelle Prävention vor sexuellem Missbrauch! Das wird doch der Fragestellung nicht gerecht. Was bedeutet die gleiche Würde von Mann und Frau in Christus für die Zugänge zu Verantwortung und verantwortlichen Positionen zum Weiheamt in der Kirche? Das ist die Frage. Wenn wir uns, um das Image der Kirche zu retten oder um Enttäuschte wiederzugewinnen, öffnen für die Frage Priesterweihe der Frau, dann sind wir nicht beim eigentlichen Punkt. Der eigentliche Punkt ist ein inhaltlicher Punkt. Und so könnte man die ganzen Fragen durchgehen zur Sexualmoral, zur Rechtsstruktur in der Kirche. Diese Fragen haben ihre Würde in sich selbst und sind nicht funktional wiederum zu beziehen darauf, Glaubwürdigkeit wieder zu gewinnen oder Enttäuschte wieder zurückzugewinnen. Das kann es nicht sein.

DOMRADIO.DE: Und wie kommt man aus dem Kreislauf raus? Gerade wenn Sie sagen, es ist auch für die Gesellschaft ein Verlust, wenn Kirche nicht mehr glaubwürdig ist und schrumpft.

Mertes: Ich glaube, dazu gehört dann irgendwann auch der Punkt, an dem in Deutschland die Bischöfe sich dazu durchringen müssen, Kontrolle bei der Aufarbeitung aus der Hand zu geben, den Prozess nicht mehr selbst zu kontrollieren, sondern wirklich in eine unabhängige Aufarbeitung der Institution hinein zu geben, die dann auch das Recht hat, Entscheidungen zu treffen. Das ist jetzt sehr allgemein ausgedrückt. Das müsste man nochmal genauer durchdenken, aber das wäre für mich der Weg. Die Kirche schafft es nicht alleine und kann es nicht. Das ist eine ständige Selbstüberforderung. Der Bischof von Belfast in Nordirland erzählt sehr eindrucksvoll, was für eine unglaubliche Entlastung es für die Kirche in Irland war, dass der Staat reingegangen ist in die ganze Geschichte. Der leitende Klerus, muss letztlich die Kontrolle über den Vorgang aus der Hand geben.

DOMRADIO.DE: Dann wäre so eine Situation wie in Köln nicht entstanden, dass ein Gutachten in Auftrag gegeben, dann aber nicht veröffentlicht wird, weil alles in einer Hand liegt. Derjenige, der das Gutachten in Auftrag gibt über sich selber, kann auch entscheiden, ob es veröffentlicht wird oder nicht.

Mertes: Genau dieses Gutachten spricht ihn dann frei und rein von allen Sünden und dann kann er anschließend seine engsten Mitarbeiter köpfen. Und dann ist er jetzt auch wieder der Richter. Das ist ja rein monarchisch gedacht und rein monarchisch durchgeführt. Damit kommt man aus der Geschichte nicht raus.

Die Verschriftlichung des Gesprächs ist eine gekürzte Fassung des Podcasts "DOMRADIO.DE Menschen".

Das Interview führte Angela Krumpen.


Quelle:
DR
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