Franziskanerbruder über das Erfassen von Obdachlosen

"Der sitzt immer an dem einen Kiosk"

Wie viele Obdachlose gibt es in Deutschland? Die Bundesregierung hat darüber offenbar keinen Überblick - für die Grünen ist das "skandalös". Obdachlosenseelsorger Bruder Markus zu den Problemen bei der Zählung von Obdach- und Wohnungslosen.

Ein Obdachloser schläft auf Stühlen / © Heike Lyding (epd)
Ein Obdachloser schläft auf Stühlen / © Heike Lyding ( epd )

DOMRADIO.DE: Teilen Sie die Ansicht der Grünen, dass die Bundesregierung in diesem Bereich "skandalös ignorant" ist?

Bruder Markus (Franziskanermönch und Obdachlosenseelsorger im Erzbistum Köln): Ob die Bundesregierung in dem Thema wirklich ignorant ist, kann ich nicht sagen. Ich unterstütze aber zumindest das Bemühen, in diesem Bereich tiefer zu schürfen. Es ist wirklich schwierig, zu sagen wie viele Wohnungs- oder Obdachlose es eigentlich gibt.

Wir müssen in dem Fall auch erst die Begriffe klären. Wohnungslos – das ist ein sehr weiter Begriff – sind alle Menschen, die keinen eigenen Wohnraum durch Mietverhältnisse oder Eigentum haben. Das heißt aber nicht, dass diese Menschen alle unter einer Brücke schlafen. Wohnungslose könnten auch in einer WG eines sozialen Trägers untergebracht und gerade in einer Integrationsphase sein. Oder sie wohnen in einem Obdachlosenheim.

Obdachlose sind die, die wirklich – ich sage es mal so - unter der Brücke schlafen. Die zu zählen ist wirklich schwierig. Wie viele das sind, ist auch hier für uns in Köln schwer zu sagen.

DOMRADIO.DE: Warum ist das so schwierig? Die Menschen müssen doch alle irgendwo gemeldet sein.

Bruder Markus: Da fängt es schon an. Sie müssten gemeldet sein, sind es aber nicht. Es ist zudem eine sehr heterogene Gruppe, von der wir da sprechen. Wenn wir bei den Obdachlosen bleiben, also den Leuten, die wirklich auf der Straße schlafen, unter der Brücke oder im Wald, dann sind das nicht nur die klassischen deutschen Wohnungslosen, die in der Fußgängerzone sitzen und betteln.

Da kommen noch viele Arbeitsmigranten dazu, zum Beispiel aus Südosteuropa - Bulgaren, Rumänen oder auch Polen - die, ich sage es mal so, womöglich als Schwarzarbeiter oder vielleicht auch gemeldet hier gearbeitet haben, die aber dann ihre Arbeit verloren haben und abgetaucht sind, sich aber immer noch hier aufhalten.

Was sind die? Das sind EU-Bürger, die sich hier legal aufhalten. Sie sind de facto obdachlos. Aber sie sind nicht registriert. Das ist aber ein großer Teil derer, die zum Beispiel das Hilfesystem in Anspruch nehmen und mit denen ich dann auf der Arbeit zu tun habe, auf der Straße und bei uns im Gubbio (Anm. der Red.: Obdachlosen-Anlaufstelle des Erzbistums Köln).

DOMRADIO.DE: Jetzt könnte man denken: Wenn wir nicht wissen, wie viele Betroffene es gibt, wissen wir auch nicht, welche oder wie viele Hilfsangebote da nötig sind. Ist das ein Problem?

Bruder Markus: Ja, das ist ein Problem. Man ist zwar dabei, etwas zu tun: Es gibt ein paar Untersuchungen, zum Beispiel zu den südosteuropäischen Arbeitsmigranten. Gerade hier in Köln gab es zum Beispiel auch eine Zusammenarbeit mit der Obdachloseneinrichtung Gulliver. Das ist aber alles nur anfänglich. Das könnte und sollte man vertiefen, um den Bedarf besser erheben zu können.

Man muss fairerweise aber sagen, dass die Stadt sich bemüht. Es gibt zum Beispiel gerade für die europäischen Obdachlosen, die sich hier aufhalten, aber keinen Hilfeanspruch in Deutschland haben, in der Vorgebirgstraße ein Übernachtungsangebot und jetzt auch ein Tagesangebot. Das ist ja schon mal was.

Die Verantwortlichen dort müssen jetzt in Erfahrung bringen, wie viele Menschen das in Anspruch nehmen. Ich glaube, in dem Gebiet könnte man qualitativ nochmal nachforschen, zum Beispiel durch Streetwork. Das ist jetzt in Köln installiert. Man muss das Feld aber zunächst sondieren. Da ist die Stadt aber auf einem guten Weg. Das kann ich zumindest für Köln sagen.

DOMRADIO.DE: Wo hapert es bei der Unterstützung von Menschen ohne festen Wohnsitz? Wo könnte noch gut Hilfe benötigt werden?

Bruder Markus: Das große Thema sind eigentlich die mittel- und langfristigen Perspektiven. Zu gucken, wo die Menschen erstmal schlafen können und wo sie ein Beratungsangebot in Anspruch nehmen können, dazu gibt es viele Möglichkeiten. Aber - und damit kommen wir zu dem Thema, das noch viel breitere Bevölkerungsgruppen betrifft und das auch heute wieder in der Presse war - da mag es zwar Wohnhilfeangebote geben, aber irgendwann geht es auch um die Vermittlung in Wohnraum.

Und diesen günstigen Wohnraum gibt es nicht. Das ist ein Problem. Und es ist auch eine Herausforderung für uns als Kirche, zu schauen, ob wir da nicht noch mehr helfen können. Im Bereich der Flüchtlingshilfe ist ganz Tolles geleistet worden. Schauen wir jetzt mal auf die Wohnungslosen.

DOMRADIO.DE: Aber das heißt, die Anzahl ist tatsächlich nicht unbedingt zu ermitteln?

Bruder Markus: Es ist schwierig. Man kann die Nutzer von Hilfeangeboten zählen. Aber es gibt ganz viele, die diese Angebote nicht nutzen. Es gibt zum Beispiel "Viertels-Obdachlose", die in keinem Hilfsangebot auftauchen, bei den Nachbarn aber bekannt sind. Die wissen, dass ein Obdachloser zum Beispiel immer an einem bestimmten Kiosk sitzt, von wem er was bekommt und wo er schläft.  

DOMRADIO.DE: Das heißt, diese Obdachlosen haben sich mit ihrer Situation arrangiert?

Bruder Markus: Ja, genau. Und wenn dann noch Obdachlose vielleicht im Wald oder sonst wo zelten – das ist natürlich nicht erlaubt, aber sie machen es trotzdem – dann wird es nochmal schwieriger, sie zu erfassen.

Das Interview führte Dagmar Peters.


Quelle:
DR
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