Pastoraltheologin Blasberg-Kuhnke über Auswirkungen von "Amoris laetitia"

"Pastoral kommt vor Dogmatik"

Rund einen Monat nach Veröffentlichung hilft das Papstschreiben "Amoris laetitia" bereits Pastoralreferenten bei der Arbeit. Zu diesem Urteil kommt Martina Blasberg-Kuhnke von der Konferenz der Pastoraltheologen.

"Amoris Laetitia" gibt´s auch als digitale Version / © Harald Oppitz (KNA)
"Amoris Laetitia" gibt´s auch als digitale Version / © Harald Oppitz ( KNA )

KNA: Frau Professor Blasberg-Kuhnke, lange hat man der Kirche vorgeworfen, sie habe von der Lebenswirklichkeit heutiger Menschen keine Ahnung. Ist die Kirche mit "Amoris laetitia" nun im wahren Leben angekommen?

Martina Blasberg-Kuhnke (stellvertretende Vorsitzende der Konferenz der deutschsprachigen Pastoraltheologen und Pastoraltheologinnen und Inhaberin der Professur für Pastoraltheologie/Religionspädagogik am Institut für Katholische Theologie der Universität Osnabrück): Ja und nein. Ja, weil es Passagen gibt, wo der Papst genau darauf hinweist: So gibt es das Eingeständnis, dass zölibatäre Priester mit ihrer Lebensform öfter weniger Einfühlung in die Situation von Paaren und Familien haben können, als wenn sie selbst in einer Partnerschaft leben würden. Angekommen ist die Kirche in der Lebenswirklichkeit insofern, als wahrgenommen wird, dass es nicht mehr nur die "eine" Familienwirklichkeit gibt, sondern viele Wirklichkeiten, die kulturell und regional höchst unterschiedlich sind.

KNA: Sind Sie mit dem Schreiben zufrieden, oder bleibt es hinter Ihren Erwartungen zurück?

Blasberg-Kuhnke: Ich bin zufrieden. Das Wichtigste ist, dass die Theologie des Zweiten Vatikanum endlich ernstgenommen wird: dass der Glaubenssinn der Gläubigen und ihre Art und Weise, Familie zu leben, von theologischer Würde und pastoraler Bedeutung ist.

KNA: Gibt es etwas, was Ihnen besonders aufgefallen ist?

Blasberg-Kuhnke: Bemerkenswert finde ich, dass der Papst das Schreiben im Verständnis der Theologie des Zweiten Vatikanischen Konzils deutet: Pastoral kommt klar vor Dogmatik. Das ist für die Kirche und ihre Seelsorge wichtig. Außerdem nimmt er in diesem Zusammenhang die Kirche und sich selbst als Problem wahr. Ein philippinischer Kardinal hat es auf den Punkt gebracht: "Die Familien sind nicht dazu da, der Kirche zu gefallen."

Vielmehr geht es darum, dass die Kirche reflektiert - und das tut der Text ganz großartig - wie sie angesichts der Tatsache, dass sie auch eine Verpflichtung zur Treue gegenüber der christlichen Botschaft und der Lehre hat, diese in den unterschiedlichsten Kontexten weltweit so kommuniziert, dass es bei den Menschen auch tatsächlich ankommt. Der Papst sieht also sich selbst und die Kirche als das Problem - nicht mehr die Paare und Familien, die anders leben, als die Kirche sich das vorstellt. Das ist ein gewaltiger Schritt, der rechte und fundamentalistische katholische Kreise sehr geärgert hat.

KNA: Gibt es Stellen, die Ihnen besonders gefallen?

Blasberg-Kuhnke: Schön finde ich, dass sich Geschiedene immer als "Teil der Kirche" verstehen dürfen und "keineswegs exkommuniziert sind". Ein weiteres Goldkörnchen ist für mich, was der Papst zur erotischen Liebe anmerkt. Sie dürfe "keineswegs als geduldetes Übel oder als eine Last" verstanden werden, sondern sei ein "Geschenk Gottes..., das die Begegnung der Eheleute verschönert". Das ist für einen fast 80-jährigen Papst ein bemerkenswerter Satz.

KNA: Kann mit dem nachsynodalen Schreiben nun auch eine Neuausrichtung der pastoralen Arbeit stattfinden?

Blasberg-Kuhnke: Eine Neuausrichtung wird sich vor allem daran zeigen, dass hoffentlich viele Bistümer weltweit den Mut fassen, wirklich genau hinzugucken: Wie ist bei uns vor Ort die Situation?

Welche Fragen und Herausforderungen stellen sich? Und wie setzen wir vor Ort - auf der Basis der allen gemeinsamen Überzeugung - um, dass Ehe und Familie gute, lebenswerte Modelle menschlichen Zusammenleben unter dem besonderen Segen Gottes sind.

KNA: Ein heißes Eisen ist die Seelsorge im Umkreis von Scheidung und Wiederheirat. Wie kann hier die von Franziskus gewünschte barmherzige Begleitung konkret aussehen?

Blasberg-Kuhnke: Es wird jetzt etwas offiziell ermöglicht, das ja vielerorts - auch in vielen deutschen Diözesen - längst gelebte Praxis ist: nämlich bei gescheiterten Beziehungen sehr genau hinzugucken und die Betroffenen als vollgültige Glieder der Gemeinde zu verstehen. Dazu zählt - nach einer gründlichen Zeit des Überlegens und des Neuorientierens - selbstverständlich auch die Teilnahme an der Eucharistie, was ja auch viele Pfarrer und manche Bistümer befürworten. 

KNA: Wie geht es jetzt konkret weiter? Müssen Menschen, die in der Pastoral tätig sind, besonders geschult werden?

Blasberg-Kuhnke: Die Praxis ist wirklich viel weiter als die Lehre. "Amoris laetitia" ist eher ein wichtiges Schreiben für diejenigen, die bisher sehr starr und wenig sensibel an der Lehre der Kirche festgehalten haben und gemeint haben, das reicht aus. Die Seelsorgerinnen und Seelsorger vor Ort in Familienbildung und -pastoral sowie Beratung sind längst viel näher an der Realität und an den Lebensmodellen der Menschen. Für sie ist es eher eine Bestätigung für das, was sie immer schon aus ihrem Gewissen heraus verantwortet haben. Das wird jetzt auch kirchlich gesehen, und der Papst unterstützt sie darin.

KNA: Das heißt, Ihre Arbeit wird damit auch leichter? 

Blasberg-Kuhnke: Ja, das haben mir schon viele im pastoralen Bereich Tätige bestätigt. Sie nehmen das Schreiben als Rückenwind wahr, der ihre Arbeit leichter macht. Denn sie stecken nicht mehr permanent in dem Dilemma, den Menschen gerecht werden zu wollen und auf der anderen Seite für die Lehre der Kirche einstehen zu müssen.

Das Interview führte Angelika Prauß.


Quelle:
KNA