Psychotherapeut Müller über das Scheitern

"Aus Mist wird Dünger für das Leben"

Psychotherapeut Wunibald Müller versucht dem Scheitern positive Seiten abzugewinnen. Er leitet das Recollectio-Haus für kirchliche Mitarbeiter in Lebenskrisen. Er hofft, dass die Kirche ihren Mitgliedern das Scheitern zugesteht.

Junge Frau mit Rosenkranz (KNA)
Junge Frau mit Rosenkranz / ( KNA )

KNA: Herr Müller, ist ein Buch über das Scheitern nicht sehr deprimierend?

Müller: Zunächst scheint es so, und Menschen sind ja auch deprimiert, wenn ein Lebensentwurf scheitert. Ich habe das Buch aber deswegen geschrieben, weil ich der Meinung bin, dass Scheitern auch eine Chance sein kann, nämlich aufzuwachen und Neues zu wagen. Das kann Kräfte in uns mobilisieren, die wir sonst nicht zur Verfügung hätten.

KNA: Warum scheitert lebenslang - etwa in der Ehe oder der Priesterberufung?

Müller: Die Gründe sind sehr unterschiedlich. Oft habe ich zum Zeitpunkt der Lebensentscheidung noch nicht die Voraussetzungen: Der Mensch hat sich selbst noch nicht entdeckt, sein eigenes Ich. Und er trifft die Entscheidung nicht frei, sondern wegen seines Umfelds. Ein Lebensentwurf kann auch scheitern, wenn ich bei der Umsetzung merke, dass es Erwartungen und Hoffnungen in mir gibt, die ich in dieser Konstellation nicht erfahren kann. Ich merke: Die Grenzen, die mir gesetzt sind, sind so eng, dass ich das, was ich noch leben möchte, nur dann tun kann, wenn ich die Grenzen sprenge. Oder man muss schauen, ob Spielräume innerhalb der Grenzen noch nicht genutzt sind.

KNA: Was heißt das konkret?

Müller: Das kann etwa eine Außenbeziehung in einer Ehe sein, die ich nicht generell verteufeln muss - ohne die Verletzungen, die damit einhergehen, beschönigen zu wollen. Oder ein Ordensmann, der in einer Gemeinschaft lebt, geht für eine gewisse Zeit raus. Menschen müssen auch mal vorübergehend eine Ausnahmesituation erleben dürfen, um Dinge nachzuholen oder selbst nachzureifen, ohne dass man die betreffende Person von vorneherein abschreibt.

KNA: Funktioniert so etwas wirklich?

Müller: Ich kenne beides, etwa auch bei zölibatär lebenden Männern und Frauen: Es gibt Menschen, die wollen, dass es nicht so weiter geht, weil sie merken, dass die Entscheidung für den Orden sehr stark von außen geprägt war. Andere stellen für sich fest: Im Wesentlichen stimmt das. Aber sie leben dann für eine bestimmte Zeit in einer Beziehung, machen eine wichtige Erfahrung, um dann doch im tiefsten Inneren zu spüren, dass die Berufung zum Priesterberuf stimmt.

KNA: Scheitern ist schlimm. Welche positiven Aspekte kann der Mensch aus dem Scheitern von Lebensentwürfen ziehen?

Müller: Ein Mensch etwa, der in einer Ehe lebte und ein narzisstischer Typ war, wird durch eine Scheidung gebeutelt, kommt aber vielleicht von seiner Selbstliebe runter. Dann erst hat er sich in seiner Unvollkommenheit erfahren und ist erst wirklich bereit für eine echte Beziehung. Da wird dann aus Mist Dünger für das Leben.

KNA: Haben Sie auch Tipps, wie lebenslänglich gelingen kann?

Müller: Neben der eigenen Identitätsfindung brauche ich auch Menschen, die mir nahe stehen und mich unterstützen oder auch korrigieren. Und ich muss natürlich immer mit Veränderungen rechnen.

Es geht nicht immer so weiter, wie es begann. Ich brauche Flexibilität und die Bereitschaft zum Wandel.

KNA: Im Oktober geht es bei der Familiensynode im Vatikan auch ums Scheitern, etwa von Ehen. Was kann Kirche, was kann Seelsorge von Ihnen als Therapeut lernen?

Müller: Irenäus von Lyon hat gesagt: „Die Ehre Gottes ist der lebendige Mensch.“ Wenn es um Beziehungen geht, etwa in Familien oder bei homosexuellen Menschen, sollte die Kirche die Bemühungen der Menschen würdigen, ihre Lebensentscheidung zu leben. Aber sie muss ihnen auch das Scheitern zugestehen. Manchmal kann das dann dazu führen, dass sie mehr zu ihrer eigentlichen Wahrheit finden. Das entscheidende Kriterium kann nicht sein, dass jemand auf Teufel komm raus bis zum Ende seines Lebens zusammenlebt und das die Hölle ist.

Sondern: Die Menschen müssen zufrieden und glücklich sein und das, was sie tun, vor sich und Gott verantworten können.

Das Interview führte Christian Wölfel.


Quelle:
KNA