Theologe Stephan Goertz über die katholische Sexualmoral

"In einer verfahrenen Situation"

"Katholische Sexualmoral" - was ist das eigentlich? Und warum steht das Thema auf der Agenda des von den deutschen Bischöfen geplanten "synodalen Weges"? Der Mainzer Moraltheologe Stephan Goertz gibt im Interview Antworten.

Autor/in:
Joachim Heinz
Homosexuelles Paar / © Jose Luis Carrascosa (shutterstock)
Homosexuelles Paar / © Jose Luis Carrascosa ( shutterstock )

KNA: Was zeichnet die katholische Sexualmoral aus?

Prof. Stephan Goertz (Mainzer Moraltheologe und Zweiter Vorsitzender der bundesweiten Arbeitsgemeinschaft Moraltheologie): Unstrittig ist, dass die menschliche Sexualität sittlich verantwortungsvoll zu gestalten ist. Für die christliche Ethik bildet die Liebe den höchsten Maßstab. Daraus lassen sich eine Reihe von Prinzipien und Normen ableiten, etwa niemandem Schaden zuzufügen, sich gegenseitig zu respektieren, rücksichtsvoll miteinander umzugehen, den Partner oder die Partnerin nicht zu manipulieren oder zu instrumentalisieren, die Folgen des Handelns zu bedenken und so weiter.

KNA: Aber?

Goertz: Die katholische Sexualmoral befindet sich in einer verfahrenen Situation, weil es vonseiten des römischen Lehramtes darüber hinaus bestimmte Verbote gibt, die als unveränderlich, als ewig gültig betrachtet werden, deren Begründung aber fundamentalen Anfragen ausgesetzt ist.

KNA: Worauf bezieht sich das?

Goertz: Das betrifft zum einen die moralische Verurteilung einer jeden nicht-ehelichen Sexualität und zum anderen das strikte Verbot künstlicher Verhütungsmittel. Zugleich wird jede sexuelle Intimität im Bereich homosexueller Beziehungen als unsittlich bewertet. Diese Normen - "niemals außerhalb der Ehe von Mann und Frau"; "niemals künstlich verhüten" - gelten als absolut verbindlich, so dass unter keinen Umständen ein davon abweichendes Verhalten moralisch toleriert werden könne.

KNA: Wie ist es dazu gekommen?

Goertz: Vor allem unter Johannes Paul II., von 1978 bis 2005 im Amt, hat die katholische Morallehre an diesem Punkt rigorose Züge angenommen. Jedes von den lehramtlichen Vorgaben abweichende Handeln wurde als sündhaft qualifiziert. Von den Gläubigen wurde Unterwerfung erwartet. Der Gehorsam gegenüber den Normen der Sexuallehre wurde zum Kriterium für Bischofsernennungen. Die Mannigfaltigkeit des christlichen Lebens sollte katholisch uniformiert werden.

KNA: Was sind aus Ihrer Sicht die Konsequenzen?

Goertz: Das Fatale ist, dass die in der Vergangenheit eingeschärften Verbote zum Kern katholischer Identität erklärt worden sind. Die Sexualmoral wurde zur Existenzfrage stilisiert. Hier entscheide sich die Zukunft des Katholischen. Verbote, die ihre Sinnhaftigkeit im geschichtlichen Wandel eingebüßt haben, können die Menschen von heute verständlicherweise aber nicht mehr überzeugen. Mit schlechten Argumenten lässt sich auf Dauer keine Lehre verteidigen und keine Autorität zurückgewinnen. Wer gegen alle Anfragen der Erfahrung und Vernunft auf Verboten und Vorurteilen - Beispiel Homosexualität - beharrt, der führt die Kirche in ein intellektuelles und kulturelles Ghetto.

KNA: Unter Papst Franziskus deutet sich gleichwohl ein anderer Kurs an.

Goertz: Die Abschwächungen der Verurteilungen von Homosexualität und Empfängnisverhütung, die Papst Franziskus vollzogen hat, sind als Versuche zu deuten, die Blockaden kirchlicher Morallehre zu lösen.

Die Vorwürfe und Schmähungen, die er damit zum Teil bei starrsinnigen Verteidigern vermeintlich ewiger Wahrheiten auf sich zieht, belegen die Widerstände gegen jede vorsichtige Änderung der Sexuallehre im antimodernen Sektor des Katholizismus. Die innerkatholischen Beharrungstendenzen, alles beim Alten zu belassen, sollte man nicht unterschätzen. Um die "traditionellen Werte" zu verteidigen, geht man Koalitionen mit politisch antiliberalen Kräften ein.

KNA: Was müsste sich Ihrer Meinung nach ändern?

Goertz: Die Frage an die lehramtliche Position lautet, ob zwei Menschen sich nicht auch jenseits der Ehe auf eine menschlich authentische, freie und respektvolle Weise lieben können, so dass ihre Sexualität als Ausdruck und Gestalt dieser Liebe eine sittliche Realität darstellt, die von der Kirche zu respektieren ist. Die konkrete Frage der Empfängnisregelung muss ein Paar im Hinblick auf die eigenen Lebensumstände nach vernünftigen Erwägungen selbst entscheiden dürfen. Die Methodenfrage ist keine Glaubensfrage und sollte auch nicht zu einer solchen gemacht werden.

KNA: Welche Rolle spielt die Theologie als Wissenschaft in der Debatte sowohl inner- als auch außerhalb der Kirche?

Goertz: Die Theologie kann ihrem wissenschaftlichen und kirchlichen Selbstverständnis nach erst dann wieder eine kraftvollere Rolle spielen, wenn sie nicht bloß affirmative, zustimmende Dienste zum Lehramt leisten soll.

KNA: Machen Sie es sich da nicht etwas einfach, indem sie die Verantwortung weg von der wissenschaftlichen Theologie hin zum kirchlichen Lehramt schieben?

Goertz: Keineswegs. Theologische Antworten auf die Umbrüche der Lebenswelten sind doch längst formuliert. Was aufseiten des Lehramtes häufig fehlt, ist eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem moraltheologischen Denken der letzten Jahrzehnte. Was mich vorsichtig optimistisch stimmt, ist die Tatsache, dass einzelne Bischöfe die Probleme inzwischen offen benennen und das theologische Gespräch suchen. Denn wer Erkenntnisse nicht an sich heranlässt, sobald sie als abweichend wahrgenommen werden, der schottet sich mehr und mehr von der Wirklichkeit ab, wie man am Beispiel kirchlicher Äußerungen zur Homo- oder Transsexualität studieren kann.

KNA: Wie meinen Sie das?

Goertz: Kirchliche Texte hinken im Bereich der Sexuallehre und generell des Geschlechterverhältnisses nicht selten erheblich hinter heutigen theologischen und humanwissenschaftlichen Erkenntnissen hinterher. Die Kirche muss zudem akzeptieren, dass über die Generationen und Milieus hinweg, zumindest hierzulande, diese Lebensbereiche nicht mehr ihrer moralischen Regie unterstehen. Das bedeutet nicht, dass genuin christliche Überzeugungen von Liebe, Freiheit und Gleichberechtigung keine Rolle mehr spielen würden.

KNA: Wann ist Kirche dann in diesem Bereich noch konkret gefragt?

Goertz: Zum Beispiel dann, wenn Menschen in existenziellen Notsituationen auf Beratung und Unterstützung angewiesen sind. Das beweist die Arbeit etwa der Caritas. Professionelle Begleitung wird heute eher als christliches Zeugnis erlebt als moralische Bevormundung.


Prof. Stephan Goertz / © Elisabeth Rahe (KNA)
Prof. Stephan Goertz / © Elisabeth Rahe ( KNA )
Quelle:
KNA