Kardinal Woelki blickt zurück auf sein erstes Amtsjahr als Kölner Erzbischof

"Wir müssen neue Wege gehen"

Vor einem Jahr wurde Rainer Maria Kardinal Woelki in sein Amt als Erzbischof von Köln eingeführt. Im Gespräch erzählt er von den Erfahrungen im ersten Jahr und seinen Vorstellungen für die weitere Entwicklung des Erzbistums.

Rainer Maria Kardinal Woelki, Erzbischof von Köln (DR)
Rainer Maria Kardinal Woelki, Erzbischof von Köln / ( DR )

Robert Boecker (Chefredakteur Kölner Kirchenzeitung): Wo steht das Erzbistum ein Jahr nach Ihrem Amtsantritt?

Kardinal Woelki: Unser Erzbistum steht in einer 1700 Jahre alten Tradition, auf den Schultern derer, die hier gelebt und geglaubt haben. Dieser Geschichte muss man sich immer bewusst sein, um so ein Jahr dann auch ins richtige Verhältnis zu setzen. Gleichzeitig gilt es, heute die Antwort des Glaubens und des Evangeliums zu geben auf die Zeichen der Zeit. Ich nehme bei den Gläubigen ein tiefes Bedürfnis danach wahr, den eigenen Glauben zu vertiefen und ihn wirksam werden zu lassen im Sinne Jesu Christi.

Boecker: Hatten Sie bei Ihrem Amtsantritt ein „Programm“, und wie hat es sich gegebenenfalls entwickelt?

Kardinal Woelki: Ich habe immer betont, dass wir einen geistlichen Prozess brauchen. Dieser geistliche Prozess braucht natürlich auch flankierende Strukturen, kann aber durch diese nicht initiiert oder gar überlagert werden. Im Zentrum aller Zukunftsorientierung steht das Hören auf Gottes Wort und die Frage nach der Bedeutung des Wortes Gottes für die Menschen unserer Zeit. Die entsprechende Gremienstruktur soll diese Orientierung am Wort Gottes unterstützen und möglichst vielen Gläubigen die Möglichkeit bieten, sich am geistlichen und insofern pastoralen Entwicklungsprozess zu beteiligen.

Boecker: War es schwierig, die Mitarbeiter von diesen Plänen zu überzeugen?

Kardinal Woelki: Nein, ich bin überall auf eine große Offenheit gestoßen, sowohl bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Generalvikariat als auch bei unseren Priestern und pastoralen Mitarbeitern und ebenso beim Diözesanrat. Entscheidend ist, dass wir heute versuchen müssen, Antworten zu finden auf Herausforderungen, die die gegenwärtige Zeit prägen. Das müssen Antworten sein, die uns aus dem Evangelium zuwachsen. Es ist nicht damit getan zu glauben, wir legen eine neue Organisationsstruktur über unser Erzbistum und alles wird gut. Entscheidend ist zu erkennen, dass Christus der Herr der Kirche ist, dass er die Kirche heute leitet und führt. Wir müssen hörende Menschen werden mit einer großen Bereitschaft, uns von Christus rufen zu lassen. Nicht wir sind Herren der Kirche, sondern Christus ist es. Wir müssen lernen in dem Bewusstsein zu leben, dass er als der Auferstandene unter uns gegenwärtig ist. Deshalb gilt es hinzuhören auf das, was er zu sagen hat und die Bereitschaft zu zeigen, ihm dann zu folgen und auf diesem Weg zu einer Verlebendigung unserer Gemeinden beizutragen.

Boecker: Welches sind denn die großen Herausforderungen, von denen Sie gesprochen haben?

Kardinal Woelki: Die Verdunstung des Glaubens ist eine sehr große Herausforderung für uns. Wenn selbst viele Christen eher daran glauben, dass eine schwarze Katze Unheil bringe als daran, dass Jesus Christus wirklich von den Toten auferstanden ist, dann wird deutlich, dass es zunächst einmal darum gehen muss, den Halt im Glauben und das Verständnis desselben wieder zu vertiefen. Wichtig ist auch die Antwort auf die Frage, wie wir angesichts einer stärkeren selbstsäkularisierenden Gesellschaft die christliche Stimme erheben und versuchen, als Kirche in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung präsent zu sein. Wir müssen uns auch in Zukunft in allen wichtigen Gesellschaftsfragen – zum Beispiel bei der demografischen Entwicklung, in der Flüchtlingsthematik, in der sozialen Frage, beim Auseinanderdriften zwischen Arm und Reich – entsprechend unserer Soziallehre positionieren. Ich betone immer wieder, dass wir eine Kirche im Wachstum sein müssen, im Wachstum des Glaubens, aber eben auch als Kirche insgesamt. Unser Bestreben muss es sein, Menschen mit Christus in Kontakt zu bringen. Das geht aber nur, wenn wir als Kirche und als Gemeinde keine geschlossenen Gesellschaften sind. Es gilt für uns alle, offen zu sein für die Menschen, die mit dem Evangelium, die mit Christus noch nicht in Kontakt gekommen sind. Das ist auch in Zukunft die entscheidende Aufgabe für uns alle.

Boecker: Hat die Kirche die Kraft für diesen Prozess? Sie haben eben von der entchristlichten Gesellschaft gesprochen und jetzt entwickeln Sie einen sehr ambitionierten Anspruch. Wie soll der vor diesem Hintergrund verwirklicht werden?

Kardinal Woelki: Wir müssen das nicht allein machen, sondern dürfen in dem Bewusstsein leben, das Christus stets mit uns geht. Das verlangt natürlich auch darauf zu hören, wohin er uns führt. Es verlangt auch die Bereitschaft, uns von einer Gestalt der Kirche zu verabschieden, die in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten sehr tragfähig gewesen ist und die unser christliches und kirchliches Bewusstsein geprägt hat. Diese Gestalt der Kirche scheint mir aber offensichtlich nicht mehr zukunftsfähig zu sein. Ich glaube, dass wir durchaus die Kraft haben einen neuen Weg zu gehen, weil wir in dem Bewusstsein gehen dürfen und gehen müssen, dass Christus uns seinen Beistand und seine Gegenwart verheißen hat.

Boecker: Für manche Menschen, die diese Notwendigkeit noch nicht erkannt haben, kann das ein schmerzlicher Prozess sein, dass wir uns nämlich verabschieden müssen von einem Modell, das über Jahrhunderte in unserer Gesellschaft getragen hat?

Kardinal Woelki: In der Tat kann das ein schmerzlicher Prozess sein, und deshalb muss auch entsprechend Raum dafür gegeben sein, dass Menschen sich von vertrauten Abläufen, Rollen und Gremien verabschieden können. Wichtig wird sein, auch denjenigen, denen die anstehenden Veränderungen noch fremd sind, eine Perspektive zu eröffnen, dass auch die neue Art Kirche ihnen Heimat im Glauben schenken wird. Wir werden Abschied nehmen müssen und gleichzeitig parallel dazu, neue Formen von Gemeinden gründen müssen, in denen Menschen eine neue Art Kirche zu sein erleben.

Boecker: Wenn Sie zehn Jahre in die Zukunft schauen, welche Visionen haben Sie?

Kardinal Woelki: In zehn Jahren werden wahrscheinlich in größeren pastoralen Räumen eine Vielzahl von kleinen christlichen Gemeinschaften leben, die in einer dezentralen Kirchenstruktur vor Ort Verantwortung für ihre jeweilige Gemeinde und die Sorgen und Nöte der Menschen vor Ort übernehmen. Diese kleinen christlichen Gemeinschaften werden immer wieder zusammenkommen, um bewusst aus dem Wort des Evangeliums heraus zu leben und communio zu feiern. Es muss uns gelingen, die Kirche in der Fläche zu belassen und erfahrbar und erlebbar zu bleiben. Zugleich geht es darum, dass diese gut vernetzten kleinen christlichen Gemeinschaften sonntags gemeinsam die Eucharistie feiern, um sich dann wieder aussenden zu lassen in die Fläche. Wenn Christen zusammenkommen und sich vom Wort Gottes anrühren lassen und ihren Glauben in der Eucharistie feiern, dann folgt auf diese Sammlung immer auch die Sendung in ihr unmittelbares Lebensumfeld. Dort gilt es, die sich darbietenden gesellschaftlichen Herausforderungen wahrzunehmen: Was leben hier für Menschen, welche Bedürfnisse haben sie, wovon träumen sie, was brauchen sie konkret? Gibt es hier zum Beispiel viele Alleinerziehende, gibt es hier viele von Armut bedrohte Kinder, gibt es alte Menschen, die von Einsamkeit betroffen sind, usw. Wie können wir Menschen mit den unterschiedlichen Nöten helfen? Wie können wir uns etwa in ambulanten Palliativdiensten engagieren? Das Spektrum der Aufgaben und Anforderungen ist groß und wird unter neuen gesellschaftlichen Herausforderungen sicher nicht kleiner werden. Entscheidend ist bei allem Einsatz und allem Engagement aber zugleich die geistliche Begleitung der Gläubigen. Es geht darum, die Eigenverantwortung der Gemeinden und die geistliche Kraft der Gläubigen zu stärken.

Boecker: Das heißt, der Priester hat in Zukunft vordringlich die Aufgabe spirituelle Impulse zu geben und mit den Menschen Eucharistie zu feiern?

Kardinal Woelki: Zunächst ist wichtig festzuhalten, dass alle Getauften und Gefirmten teilhaben am gemeinsamen Priestertum Jesu Christi und dass der Dienst des Priesters ein Dienst an diesem gemeinsamen Priestertum ist. Die Aufgabe dieses Dienstes wird es sein müssen, die Getauften und Gefirmten vor Ort zu befähigen, ihr Priestertum, ihr Christsein zu leben. Insofern wird der priesterliche Dienst wie jeder pastorale Dienst in gewisser Weise Hebammendienste zu leisten haben, indem er Menschen befähigt, ihre Teilhabe am Leib Christi zu leben.

Boecker: Wie haben Sie als Erzbischof die Menschen in der Diözese im ersten Jahr erlebt? Fühlen Sie sich hier gut aufgenommen, angekommen, willkommen, getragen?

Kardinal Woelki: Es sind genau die Begriffe, die Sie gerade angesprochen haben. Ja, ich fühle mich angenommen und ich fühle mich getragen, ich fühle mich auch verstanden mit meinem Anliegen und ich bin sehr dankbar dafür, dass so viele Menschen das, was in dem vergangenen Jahr initiiert und angestoßen wurde, mitgetragen haben. Wenn ich allein nur an die große Flüchtlingsinitiative „Aktion Neue Nachbarn“ denke, die wir im Bistum begonnen haben, wird mir klar, was für eine große und starke christliche Gemeinschaft wir sind: Ohne die, die in den Gemeinden die Verantwortung tragen, wäre dies alles nicht möglich gewesen.

Boecker: Gibt es etwas, das Sie besonders berührt hat im zurückliegenden Jahr?

Kardinal Woelki: Berührt hat mich der Gottesdienst für die Opfer des Germanwings-Absturzes im Kölner Dom und auch der Gottesdienst anlässlich der Aktion „23 000 Glockenschläge“ für die im Mittelmeer ertrunkenen Flüchtlinge. Dass an jenem Abend – trotz des schlechten Wetters - so viele Menschen auf den Roncalliplatz gekommen sind, und im strömenden Regen mitgebetet und ihre Solidarität gezeigt haben, das hat mich sehr berührt, bewegt und bestärkt.

Boecker: Was verbindet Sie mit Papst Franziskus? Was schätzen Sie an ihm, wo ist er Vorbild für Sie?

Kardinal Woelki: Vorbild ist er mir vor allen Dingen in seiner offenen, herzlichen, den Menschen zugewandten Art, in der einfachen, klaren, eindeutigen Sprache, mit der er die Realität der Menschen und deren Lebensverhältnisse anspricht und thematisiert. Für ihn ist jeder Mensch Ebenbild Gottes, der es verdient geliebt und geachtet und wertgeschätzt zu werden, unabhängig von seinem sozialen Stand oder anderen Merkmalen.

Boecker: Wie wichtig ist die Synode, die jetzt ansteht? Welche Erwartungen haben Sie?

Kardinal Woelki: Die Synode wird eine große Herausforderung für die Kirche darstellen, denn es geht um wichtige Fragen für das christliche Leben. Die Synode wird sich mit der sakramentalen Ehe und ihrer Stärkung befassen und gleichzeitig die Realität in den Blick nehmen, dass es Menschen gibt, denen es nicht gelingt, das Sakrament der Ehe dauerhaft zu leben. Ich bin mir sicher, dass sich der Papst und die Synodenväter durch die vorhergehende Synode und die dort entwickelten Arbeitspapiere gut vorbereitet haben. Jetzt wird man abwarten müssen, wohin der Heilige Geist die Synode führen will. Es ist ja ein Beratungsgremium, das dem Papst in diesen wichtigen Fragen Empfehlungen gibt. Am Ende wird der Papst aus dem, was die Synode erarbeitet hat, seine Entscheidungen zu treffen haben.

Boecker: Ich habe unsere junge Praktikantin gestern gefragt, welche Frage sie Ihnen gerne stellen würde. Ihre Frage an Sie lautet: Was muss die Kirche tun, um wieder attraktiver für junge Menschen zu werden?

Kardinal Woelki: Kirche wird attraktiv, wenn wir anfangen, authentisch unser Christsein zu leben. Je echter und authentischer wir unser Christsein leben und je offener wir über unseren Glauben sprechen, desto mehr werden junge Menschen hellhörig und uns fragen, warum gerade wir als Christinnen und Christen leben wollen. Unser Zeugnis macht Kirche attraktiv.

Boecker: Sie haben mehrfach davon gesprochen, das Bischofshaus zu einem offenen Haus zu machen. Was bedeutet das?

Kardinal Woelki: Ein Bischof muss mit den Menschen in Kontakt stehen. Es kommen jeden Tag viele verschiedene Menschen zum Gespräch hierher – Politikerinnen und Politiker, Verantwortungsträger in Wirtschaft und Gesellschaft und natürlich auch aus unseren Verbänden und Gemeinden. Insofern ist das Haus insgesamt schon ein Ort der Begegnung. Aber darüber hinaus habe ich eben versucht, es auch für größere Gruppen zu öffnen. So haben wir in diesem Jahr unseren gemeinsamen Empfang mit dem Diözesanrat, der sonst immer zu Beginn des neuen Jahres stattfand, nach dem Gottesdienst in St. Gereon hier im Garten begangen. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Generalvikariates waren hier, und auch Begegnungen mit den Vertreterinnen und Vertretern von Presse, Funk und Fernsehen haben anlässlich des Weltkommunikationstags hier im Garten stattgefunden.

Boecker: Wenn der Erzbischof mal nicht im Dienst ist, was macht er dann in seiner Freizeit?

Kardinal Woelki: Er versucht zu verfolgen, was der 1. FC Köln so alles macht, und geht ansonsten das eine oder andere Mal eine Runde durch die Stadt und den Garten, um sich körperlich fit zu halten.

Boecker: Das klingt nach sehr wenig Freizeit.

Kardinal Woelki: Ja, das ist so.