Papst mahnt zu Wachsamkeit gegenüber Antisemitismus

Zweiter Tag im Baltikum

Papst Franziskus hat in Litauen vor einem Wiedererstarken des Antisemitismus gewarnt. Er äußerte sich bei einer Messe mit rund 100.000 Gläubigen in Kaunas. Am Nachmittag steht ein Besuch im ehemaligen jüdischen Ghetto in Vilnius an.

Papst Franziskus im Santakos-Park in Kaunas / © Paul Haring (KNA)
Papst Franziskus im Santakos-Park in Kaunas / © Paul Haring ( KNA )

Papst Franziskus hat auf seiner Baltikumreise vor einem Wiedererstarken des Antisemitismus gewarnt. Die nach dem Holocaust geborenen Generationen stünden in der Gefahr, solchen Ideologien wieder nachzulaufen, sagte er bei einer Messe am Sonntag im litauischen Kaunas. Die katholischen Gläubigen müssten das Gedenken an die Judenvernichtung im Zweiten Weltkrieg wachhalten und "jeden neuen Keim dieser verderblichen Gesinnung rechtzeitig erkennen".

Franziskus erinnerte dabei an die Räumung des Ghettos von Vilnius vor 75 Jahren am 23. September 1943 und die Ermordung Tausender Juden. Der Papst äußerte sich bei einem Gottesdienst in der zweitgrößten Stadt des katholisch geprägten Landes. Zu der Feier unter freiem Himmel hatten sich nach Veranstalterangaben rund 100.000 Menschen versammelt.

Papst: Viele erinnerten sich an Deportation

In seiner Predigt ging das Kirchenoberhaupt auch auf die deutsche und sowjetische Besatzung ein. Litauen höre noch immer "mit Schaudern" den Namen Sibirien oder die Erwähnung der Ghettos von Vilnius und Kaunas. Viele erinnerten sich persönlich an Deportation, die Sorge um die Verschleppten und an "die Schande der Denunziation und des Verrats". Für viele sei auch der Glaube an Gott ins Wanken geraten: "Die Tatsache, dass Ihr treu bliebt, reichte nicht, dass er in den Lauf Eurer Geschichte eingegriffen hätte", so Franziskus.

Der Papst mahnte die Kirche Litauens zu Solidarität und Aufbruch. Streben nach Macht und Ruhm seien Verhaltensweisen von Menschen, die mit ihrer eigenen Geschichte nicht im Reinen seien. In der Mitte der Kirche hätten die Geringsten und Ärmsten zu stehen, seien es ethnische Minderheiten, von Auswanderung bedrohte Arbeitslose, vereinsamte alte Menschen oder entwurzelte Jugendliche. Die Kirche dürfe keine Angst davor haben, die eigenen Grenzen zu verlassen und sich "an die Geringsten zu verlieren", sagte der Papst.

Zu dem Gottesdienst unter freiem Himmel werden katholische Gläubige aus dem ganzen Land erwartet. An gleicher Stelle hatte vor 25 Jahren Johannes Paul II. als erster Papst in Litauen eine Messe zelebriert. Weiter steht für Franziskus in Kaunas ein Mittagessen mit den Bischöfen Litauens und eine Begegnung mit Priestern und Ordensleuten in der Kathedrale der zweitgrößten Stadt des Landes auf dem Programm.

Besuch des ehemaligen jüdischen Ghettos in Vilnius

Am Nachmittag besucht der Papst das ehemalige jüdische Ghetto von Vilnius und das nationale Museum zum Gedenken an die Besetzungen und den Freiheitskampf. An beiden Stätten will er an die Opfer von Verfolgung und Unterdrückung unter den Nationalsozialisten und während der sowjetischen Ära erinnern.

Das Ghetto von Vilnius war nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht 1941 eingerichtet worden und diente als Unterkunft für rund 40.000 Juden, die bis auf wenige ermordet oder in Konzentrationslager deportiert wurden. Am 23. September 1943 wurde das Ghetto geräumt; der Tag jährt sich an diesem Sonntag zum 75. Mal.

Insgesamt lebten in Litauen zu Beginn des Zweiten Weltkriegs mehr als eine Million Juden. Die meisten kamen unter den Nationalsozialisten gewaltsam ums Leben. Die Kollaboration der nichtjüdischen litauischen Bevölkerung ist bis heute ein sensibles Thema.

Papst: Litauen soll Brücke zwischen Ost- und Westeuropa sein

An seinem ersten Besuchstag hatte Franziskus in einer Rede im Präsidentenpalast Litauen in seiner Rolle als Brücke zwischen Ost- und Westeuropa bestärkt. Zudem ermutigte das Kirchenoberhaupt junge Katholiken in Litauen in ihrer nationalen Identität. Es gebe "keine Menschen ohne Wurzeln", sagte er bei einem Jugendtreffen am Samstag in Vilnius.

Jugendliche sollten die "Wurzeln ihres Volkes", dessen Freuden, Leiden und Werte kennenlernen. Jede Identität setze die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft und einem Volk voraus. Zugleich rief er dazu auf, sich Herausforderungen zu stellen und das "Risiko der Begegnung mit anderen" einzugehen.

Litauen ist historisch von einer ethnischen Vielfalt geprägt. Trotz einer Zunahme des litauischen Bevölkerungsanteils gehören noch immer rund 15 Prozent den etwa zehn ethnischen Minderheiten an.

Botschaft an Jugendliche: "Gegen den Strom schwimmen"

Franziskus warnte die Jugendlichen vor der Versuchung, angesichts von Schwierigkeiten oder Erfolg egoistisch zu werden. Sie sollten vielmehr "gegen den Strom jenes Individualismus schwimmen, der uns isoliert, der uns egozentrisch und eitel macht". Der Glaube könne helfen, Probleme zu bestehen, aber auch gewohnte Vorstellungen aufzugeben und sich zu engagieren. Nachdrücklich empfahl der Papst ältere Generationen als Vorbild. "Auch die Freiheit eures Vaterlandes ist ein Verdienst derer, die sich von Terror und Unglück nicht entmutigen ließen", sagte er.

Anschließend begab sich Franziskus zu einem kurzen Gebet in die Kathedrale von Vilnius. Das in seiner heutigen Gestalt klassizistische Gotteshaus war während der Sowjetzeit ab den 1950er Jahren als Kunstgalerie und teils als Autowerkstatt genutzt worden.

Nachrichtlich überlagert wurde der Reiseauftakt von einem zeitgleich geschlossenen Abkommen zwischen dem Vatikan und China. Beide Seiten beendeten damit einen jahrzehntelangen Streit über Bischofsernennungen und machten den Weg für eine weitere diplomatische Annäherung frei.


Papst Franziskus während der Messfeier in Kaunas / © Paul Haring (KNA)
Papst Franziskus während der Messfeier in Kaunas / © Paul Haring ( KNA )

Papst Franziskus spricht zu jungen Menschen in Vilnius / © Vatican Media (KNA)
Papst Franziskus spricht zu jungen Menschen in Vilnius / © Vatican Media ( KNA )

Papst Franziskus betet vor einer Madonna in der Kathedrale von Vilnius / © Vatican Media (KNA)
Papst Franziskus betet vor einer Madonna in der Kathedrale von Vilnius / © Vatican Media ( KNA )
Quelle:
KNA
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