Einspruch zum aktuellen Showdown in der katholischen Kirche

Der doppelte Boden des antipäpstlichen Furors

Es knarzt im Gebälk der katholischen Kirche. Papst Franziskus sucht deshalb im Wirrwarr der Missbrauchsaufarbeitung den Tropfen Öl zur Linderung. Und tritt doch auf der Stelle? Ein Kommentar des katholischen Publizisten Andreas Püttmann.

 (DR)

Im Missbrauchsskandal der katholischen Kirche gibt es so etwas wie "die Gnade des frühen Pontifikats". Nicht auszudenken, was vom "Subito Santo!" über Johannes Paul II. geblieben wäre, wenn die Maßstäbe, die jetzt an Papst Franziskus angelegt werden, schon für den päpstlichen Protektor Pater Maciel Degollados gegolten hätten. Gegen den Gründer der "Legionäre Christi" gab es jahrzehntelang, spätestens seit 1997 ernstzunehmende, schwerwiegende Vorwürfe des Missbrauchs an Jugendlichen und Seminaristen, nebst Vaterschaft eigener, ebenfalls missbrauchter Kinder aus zwei unehelichen Beziehungen. Erst 2006 (!) wurde Maciel "ein zurückgezogenes Leben des Gebets und der Buße" verordnet. Johannes Paul II. hatte ihn öffentlich als "Vorbild für die Jugend" gepriesen und ihm noch 2004 zum 60. Priesterjubiläum gratuliert.

Regelrechte Jagd auf Franziskus

Zwar müssen Päpste, selbst Heilige, weder ohne Sünde noch von unfehlbarer Menschenkenntnis sein – aber gewissenhaft in der Aufklärung so gravierender Vorwürfe und konsequent in der Ahndung belegter Vergehen sehr wohl. Dass glühende Verehrer des polnischen "Jahrhundertpapstes" Franziskus regelrecht jagen für voreilige Ehrenerklärungen und falsche Nachsicht, ja sogar seinen Rücktritt fordern, wirkt heuchlerisch und deutet auf eine kirchenpolitische Agenda hin. Zumal die offenkundig mangelhafte Durchsetzung der eh nur diskreten Sanktionen Benedikts XVI. gegen Kardinal McCarrick von denselben gar nicht angeprangert wird.

So doppelbödig und selbstentlarvend der antipäpstliche Furor der ehemals Superpapsttreuen auch sein mag, kann sich der redselige Franziskus nun doch nicht auf ein demonstratives Schweigen zu Viganos Vorwurf frühzeitiger Mitwisserschaft und Schonung McCarricks zurückziehen. Ohne Aufklärung dieser Sache droht ein Autoritätsverlust, der schlimmer ausfallen könnte als der durch einen eingestandenen Fehler.

Früher waren Päpste schweigsamer

Ein Teil der Bedrängnis, in die der Papst geraten ist, folgt aus einem Wandel der päpstlichen Kommunikation, der vor ihm begann. Äußerten sich die "Stellvertreter Christi" früher nur selten und in sorgsam durchdachten, fachkundig beratenen und wohl auch "erbeteten" Lehrschreiben und Predigten, so erweiterte sich bereits unter Franziskus’ Vorgängern das Repertoire durch Spontanreden und Interviews. Dadurch ließ sich hier und da ein Charisma besser ausspielen und ein günstiges Momentum nutzen. Doch die neue Redseligkeit trug auch zur Profanierung, Politisierung und Fehleranfälligkeit in der Ausübung eines Amtes bei, dessen Autorität sich einer gewissen Entrücktheit und Fokussierung auf das Grundsätzliche, Immergültige verdankte. Notwendige, konkrete Einmischungen in die Zeitläufte waren damit nicht ausgeschlossen – zumal in Gesten –, aber eben nicht an der Tagesordnung. So konnte sich ein Papst weniger leicht in Widersprüche verstricken und zu Klarstellungen oder Dementis genötigt sehen wie jüngst nach Franziskus’ Antwort, homosexuell empfindenden Jugendlichen sei vielleicht psychotherapeutisch zu helfen.

Auch Benedikt XVI., der das als "Weltpremiere" gefeierte TV-Interview vor seinem Bayernbesuch 2006 noch bravourös meisterte, tat sich und dem höchsten Amt der Kirche keinen Gefallen mit den Interviews und Grußworten, die er, entgegen aller Erwartung, nach seinem angekündigten Rückzug in ein stilles Leben des Gebets dann doch noch gab – unwürdiges Austeilen gegen alte Widersacher inklusive.

Die richtigen Lehren ziehen

"Altersweisheit" ist leider nicht die einzige Frucht einer fortgeschrittenen Biographie. Das Schwinden körperlicher Kräfte muss zwar nicht mit Einbußen an geistiger Klarheit und sogar Frische einhergehen, wie Benedikts Spätwerk und Franziskus’ Lehrschreiben "Evangelii Gaudium" oder "Gaudete et exsultate" zeigen. Doch gerade die christliche Demut sollte dafür sensibilisieren, dass Geistesgegenwart und situative Trittsicherheit, geteilte Aufmerksamkeit, präzise Erinnerung, Stressresistenz, Fehlereinsicht und psychische Manipulierbarkeit durch engste Vertraute auch betagten Päpsten zum Problem werden können. Was unter früheren Bedingungen der Amtsführung weniger leicht öffentlich "durchschlug", sticht unter dem Flutlicht der demokratisch-medialen, kirchenkritischeren Öffentlichkeit und polarisierteren Kirche heute ins Auge.

Wenn alle Beteiligten daraus die richtigen Lehren zögen und vor allem nicht auf Empörung über Nachlässigkeiten anderer ihr machtpolitisches oder kirchenideologisches Süppchen kochen würden, wäre dem Dienst der Kirche vor Gott und an den Menschen – gerade auch an jenen, denen in der Kirche Leid zugefügt wurde – sehr geholfen. Von einem jetzt schon martialisch proklamierten "Bürgerkrieg" zwischen verfeindeten Kirchenlagern haben die Opfer nichts. Er würde sie nur weiter marginalisieren, beleidigen und abstoßen. Und nicht nur sie.

Informationen zum Autor: Dr. phil. Andreas Püttmann ist Politikwissenschaftler und freier Publizist. Zuvor war er Referent für Begabtenförderung bei der Konrad-Adenauer-Stiftung und Redakteur beim "Rheinischen Merkur". Zuletzt erschien von ihm: 'Wie katholisch ist Deutschland - und was hat es davon?' 


Dr. Andreas Püttmann (privat)
Dr. Andreas Püttmann / ( privat )
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DR