Kommentar zum Papst-Schreiben "Amoris laetitia"

Barmherzigkeit über alles

Als Nagelprobe für die Reformen von Papst Franziskus wurde sein langerwartetes Schreiben zu Ehe und Familie bezeichnet. Doch was herauskam, ist kein Reformpapier, sondern ein tiefgründiges Plädoyer für Barmherzigkeit. Ein Kommentar:

KNA-Chefredakteur Ludwig Ring-Eifel (KNA)
KNA-Chefredakteur Ludwig Ring-Eifel / ( KNA )

"Amoris laetitia" ist ein ungewöhnlicher Text eines ungewöhnlichen Papstes. Franziskus wusste genau, welche Erwartungen vor diesem Schreiben von "links" und von "rechts" an ihn gerichtet wurden, als er ankündigte, das leidige Thema des Umgangs der Kirche mit den wiederverheirateten Geschiedenen neu zu klären. Und er schreibt, warum er beide Flügel gleichermaßen enttäuschen musste, weil er einen anderen, radikaleren Weg gewählt hat.

An den kirchlichen Reformflügel gewandt wirbt er um Verständnis dafür "... dass man von der Synode oder von diesem Schreiben keine neue, auf alle Fälle anzuwendende generelle gesetzliche Regelung ... erwarten durfte". Und weiter: "Es ist nur möglich, eine neue Ermutigung auszudrücken zu einer verantwortungsvollen persönlichen und pastoralen Unterscheidung der je spezifischen Fälle."

Klar ist auch seine Ansage an die konservativen Bischöfe, die bei einem anderen Umgang der Kirche mit den in der Ehe gescheiterten Gläubigen eine "Verdunklung" der Lehre zur Unauflöslichkeit der Ehe befürchten. Ihnen erklärt er: "Ich verstehe diejenigen, die eine unerbittliche Pastoral vorziehen, die keinen Anlass zu irgendeiner Verwirrung gibt." Er aber glaube fest, dass Jesus etwas anderes wolle: eine Kirche, die sich als Mutter nicht vor dem Schmutz ihrer Kinder fürchtet und das Gute auch noch inmitten von Schwachheit und Straucheln sucht.

Prinzip der Barmherzigkeit

"Amoris laetitia" ist nicht etwa ein Mittelweg zwischen einer Reform des Gesetzes und einem konservativem Kurshalten. Vielmehr stellt er das Gesetz als Ganzes unter den Vorbehalt des größeren Prinzips der Barmherzigkeit. Dies tut er nicht im Sinne des rheinischen Katholizismus, wonach ein Seelsorger "auch mal fünf grade sein lassen muss". Er geht weiter und erklärt, dass die Barmherzigkeit und die Anerkennung der "mildernden Umstände" für die Bewertung eines moralischen Scheiterns - auch und gerade im Bereich von Ehe und Familie - nicht bloß eine tolerable Flexibilität in der Anwendung der Lehre sei. Sie ist bei ihm vielmehr die Grundlage und Voraussetzung christlicher Lehre und ihrer Anwendung in der Seelsorge.

Angesichts der von Gott gegebenen Geschichtlichkeit des Menschen und der biografischen Umwege, die Familien zurücklegen, müsse man damit "aufhören, von den zwischenmenschlichen Beziehungen eine Vollkommenheit, eine Reinheit der Absichten und eine Kohärenz zu verlangen, zu der wir nur im endgültigen Reich finden können. Es hält uns auch davon ab, jene hart zu richten, die in Situationen großer Schwachheit leben."

Diese Ausführungen von "Amoris laetitia" zur Barmherzigkeit gehören zum theologisch stärksten, was Franziskus bislang veröffentlicht hat. Manches spiegelt das wider, was Kardinal Walter Kasper bereits 2014 vor den Kardinälen in Rom sagte. Viele Passagen sind aber auch reicher und alltagstauglicher, als es Kaspers als theologisches Referat angelegter Vortrag sein konnte.

Die Ergebnisse der Umfragen an der katholischen Basis erscheinen darin ebenso wie die Beratungen der Bischofssynoden. Das gilt auch für den Rückgriff auf den mittelalterlichen Kirchenlehrer Thomas von Aquin. Dessen Lehrsätze über die kluge einzelfallgerechte Anwendung allgemeingültiger Prinzipien hatten bereits in der deutschsprachigen Synodengruppe im Oktober 2015 den Durchbruch gebracht. Dies nun in der Seelsorge anzuwenden, empfiehlt Papst Franziskus in seinem Schreiben "nachdrücklich".

Harter Brocken für konservative Kritiker

Für konservative Kritiker des Franziskus-Kurses ist die theologische Untermauerung seines Schreibens ein harter Brocken. Die von ihnen angedeutete mögliche Kirchenspaltung wird nun nicht stattfinden. Der ins Spiel gebrachte Häresie-Vorwurf an die Adresse des Papstes geht ins Leere. Was ihnen noch bleibt, ist die Warnung vor einer relativistischen Missdeutung seiner Barmherzigkeits-Moraltheologie.

Aber auch den Reformern in den deutschsprachigen Ländern wird sich mit dem Franziskus-Denken nicht ohne weiteres anfreunden können. Ihnen wären allgemeine Regeln nach evangelisch-liberalem Muster ("Menschen in zweiter Ehe sind zum Tisch des Herrn zugelassen") lieber gewesen. Eine Moral auf der Grundlage der Barmherzigkeit ist auch für sie erst einmal anstößig.

Ludwig Ring-Eifel

Chefredakteur der Katholischen Nachrichtenagentur


Quelle:
KNA