Türkei-Protest gegen eine Papst-Äußerung

Bald 100 Jahre der Leugnung

Als "ersten Genozid des 20. Jahrhunderts" hat Franziskus die Vertreibung der Armenier 1915 bezeichnet – und sich so den Unmut der Türkei zugezogen. Dabei ist er nicht der erste Papst, der das damalige Unrecht beim Namen genannt hat.

Armenier im Gefangenenlager / © PD-US (KNA)
Armenier im Gefangenenlager / © PD-US ( KNA )

Dr. Raffi Kantian, Vorsitzender der deutsch-armenischen Gesellschaft, im domradio.de-Interview:

domradio.de: Wie bewerten Sie die Äußerung von Papst Franziskus?

Kantian: Ich begrüße das, weil es sich um einen weiteren Schritt in der Geschichte der katholischen Kirche handelt, die Sachlage von 1915 zu präzisieren. Bereits Papst Johannes Paul II. hat 2001 eine ähnliche Äußerung gemacht, er sprach damals in Armenien von einer großen Katastrophe. Der Begriff Völkermord ist natürlich wesentlich präziser.

domradio.de: Was bedeuten die Äußerungen des Papstes zum Völkermord für die Armenier?

Kantian: Sie sind eine weitere Bestätigung dessen, was weltweit gesagt wird. So hat der Grünen-Bundesvorsitzende Cem Özdemir unlängst in Berlin in einem Vortrag diese Dinge genauso charakterisiert hat. Im Übrigen gibt es jede Menge Dokumente, auch im Deutschen Diplomatischen Archiv. Die Seite, die sich bislang nicht bewegt, ist leider die Türkei. Es gibt innerhalb Teilen der türkischen Zivilgesellschaft erfreuliche Bewegungen, aber die offizielle Haltung der Politik ist leider unverändert.

domradio.de: Woher kommt diese starre türkische Haltung in der Frage des Völkermords?

Kantian: Die offizielle Haltung hat eine bald 100-jährige Tradition der Nichtakzeptanz und Leugnung. Von Anfang an gibt es die Position: Es hat so etwas nicht gegeben. Und wenn überhaupt, in einem sehr kleinen Ausmaß. Und wenn überhaupt, sind die Armenier schuld. Dann gibt es noch die zweite Tradition, die Helden des Befreiungskrieges von 1918 bis 1923 zu verehren. Nur war ein Teil dieser Menschen an der Ermordung der Armenier beteiligt. Und wenn man jetzt 1915 als Völkermord anerkennen würde, müsste man über diese Menschen sprechen.

domradio.de: Welche Chancen auf eine Änderung der türkischen Position gibt es?

Kantian: Auf offizieller Ebene erkenne ich wenig Bewegung. Anders sieht es in der Zivilgesellschaft aus: Es gibt türkische Historiker, die von einem Völkermord sprechen. Der bedeutendste, Taner Akçam, ist interessanterweise in den USA tätig. Dann gibt es alternative Verlage, die die deutschen Dokumente veröffentlichen. Aber die offizielle Politik möchte sich nicht bewegen.

Das Gespräch führte Christian Schlegel.


Quelle:
DR