Olympiapfarrer spricht sich gegen Boykott der Europameisterschaft aus

Ein "schlimmes Dilemma"

Olympische Spiele in China, Formel-1-Rennen in Bahrein, Fußball-Europameisterschaft in der Ukraine. Spielen die Menschenrechte bei der Auswahl von internationalen Sport-Großveranstaltungen keine Rolle mehr? Doch, meint Sportpfarrer Hans-Gert Schütt. Aber der Sport müsse versuchen neutral zu bleiben, sagt Schütt im domradio.de-Interview.

 (DR)

domradio.de: Sie waren schon bei der Olympiade 2008 in China als Seelsorger mit dabei. Auch da ist im Vorfeld viel von den Menschenrechten die Rede gewesen - überfordert das nicht die Sportler, die sich ja eigentlich auf ihren Wettkampf konzentrieren wollen? --
Hans Gerd Schütt: Es ist natürlich so, wenn wir unterwegs und in einem Land zu Gast sind wie demnächst in Großbritannien, also in London, dann ist das natürlich eine wesentlich angenehmere Situation, als wenn Sie in einem Land unterwegs sind, wo es mit den Menschenrechten hapert oder wo die Menschenrechte mit Füßen getreten werden. Und das belastet natürlich auch die Sportler, insofern dass sie zunächst einmal selbst lieber in einem Land sind, das die Menschenrechte akzeptiert. Es belastet sie vielleicht weniger während des Wettkampfs, aber im Vorfeld sehr wohl, denn an sie werden auch Fragen gerichtet, die sie nicht so einfach beantworten können, z.B.: Sollte man überhaupt in ein solches Land fahren? Was ist die Rolle des Sports, was sind seine Möglichkeiten? Das sind sehr diffizile, schwierige Fragen, die man nicht so einfach beantworten kann.

domradio.de: Sie begleiten als Seelsorger ja schon länger Sportler im Ausland. Sind nach Ihrem Eindruck vor einem solchen Hintergrund Sportveranstaltungen in solchen kritischen Ländern überhaupt sinnvoll?--
Schütt: Tja, da stecken wir in einem schlimmen Dilemma. Einerseits ist der Sport bestrebt, internationale Begegnungen im Wettkampf und im sportlichen Miteinander zu fördern. Und aus diesem Grund muss er sich eine gewisse Neutralität auferlegen. Wenn Sie nun eine solche Problematik sehen und sehr hohe Maßstäbe anlegen, dann wird die Zahl der Länder, mit denen Sie sich im sportlichen Wettkampf treffen können, natürlich extrem eingeschränkt. Deshalb versucht der Sport, diesbezüglich neutral zu sein. Hinzu kommt noch wie im Fall der Ukraine, dass das Vergabeverfahren der EM schon weit im Vorfeld erfolgen musste und sich die Lage der Menschenrechte dort im Laufe der Zeit natürlich verschlechtert hat. Jetzt ist es so: Entweder sagen Sie, wir machen eine internationale Begegnung, wir bleiben neutral, versuchen vielleicht schon im Vorfeld zu berücksichtigen, wie die Lage der Menschenrechte in dem betreffenden Land ist, wie ist die politische Position dort. Dann kann man schon im Vergabeverfahren schauen, ob das geht oder nicht. Dann muss man aber auch sehen, dass in diesen zuständigen Gremien ja auch Vertreter/innen von Ländern sitzen, in denen eine sehr, sehr schwierige Menschenrechtssituation herrscht, die aber unter Umständen Mehrheiten zusammenbekommen, und wo dann einfach eine Mehrheitsentscheidung fällt, die auch noch von ganz anderen Interessen getragen wird.

domradio.de: Sie waren ja vor vier Jahren bei den Olympischen Spielen in Beijing dabei, da gab es ja im Vorfeld die Hoffnung, dass sich die Menschenrechtssituation dort erheblich verbessern würde. Wie ist Ihr persönlicher Eindruck? Hat das irgendetwas gebracht in Hinblick auf die Menschenrechte?--
Schütt: Ich habe schon damals im Vorfeld gesagt, dass man hier dem Sport etwas zutraut, was ihn überfordert. Der Sport kann nicht die Problematik der Menschenrechte lösen, aber er kann dazu beitragen, dass sich Sportler und Sportlerinnen - und das erlebe ich ja auch während der Spiele - aus verschiedenen Kulturen, Nationen, Ländern treffen, miteinander reden und sich austauschen. Aber es wäre wirklich zu optimistisch zu erwarten, dass ein singuläres Ereignis, und sei es ein noch so großes wie die Olympischen Spiele, groß etwas ausrichten könnte. Bestenfalls kann die Politik flankierend mit eingreifen, kann über ihre Möglichkeiten natürlich auch "Druck ausüben" oder wie auch immer Einfluss nehmen, wie es jetzt ja auch geschieht - direkt oder indirekt - durch die Absage der Reise des Bundespräsidenten in die Ukraine. Der Sport als Organisation, der Sportbetrieb kann wie gesagt bestenfalls darauf hoffe, dass durch diese Begegnungen Sensibilitäten entstehen und langsam, aber sicher vielleicht auch Wandlungsprozesse einsetzen. Aber der einzelne Sportler und die einzelne Sportlerin kann da nicht sehr viel machen, auch in ihrem jeweiligen Land nicht.



Das Interview führte Mathias Peter.



Hintergrund

Die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton hat die Ukraine für Rechtsverletzungen im Fall der gefangenen Oppositionspolitikerin Julija Timoschenko kritisiert. Ashton appellierte am Donnerstag in Brüssel an die Pflicht der Behörden, umgehend und unparteiisch alle Beschwerden über Folter und andere Formen von Gewalt oder unmenschlicher und herabwürdigender Behandlung zu prüfen. Sie sei "sehr betroffen" über den Hungerstreik der früheren ukrainischen Ministerpräsidentin.



Ashton rief die ukrainischen Behörden auf, Timoschenko angemessene medizinische Behandlung zu gewähren. Sie müsse zudem Kontakt zu ihrem Anwalt haben und Besuch von Familienangehörigen erhalten können. Ashton kündigte an, die Politikerin schnellstmöglich gemeinsam mit einem Mediziner im Gefängnis zu besuchen.



Die schwer kranke Timoschenko war im Oktober wegen Amtsmissbrauchs zu sieben Jahren Haft verurteilt worden. Ausländische Regierungen und Menschenrechtler kritisierten ihre Verurteilung wiederholt als politisch motiviert. Anfang April riefen mehrere ukrainische Kirchen Staatspräsident Viktor Janukowitsch zur Freilassung Timoschenkos auf. Bundespräsident Joachim Gauck sagte aus Protest gegen die Behandlung der Oppositionspolitikerin seine Ukraine-Reise ab. Aus Protest gegen die Haftbedingungen befindet sich Timoschenko seit Tagen im Hungerstreik. Unterstützung erfährt sie derzeit auch von deutscher Seite: Bundespräsident Joachim Gauck hat seinen für Mai angesetzten Besuch in der Ukraine abgesagt. Zahlreiche Politiker erwägen außerdem aus Sorge um den Gesundheitszustand Timoschenkos einen Boykott der Fußball-Europameisterschaft, die vom 8. Juni bis 1. Juli in Polen und der Ukraine stattfindet.



Dass die Ukraine vor diesem Hintergrund ein sportliches Großereignis austragen darf, findet der evangelische Bischof der Ukraine, Uland Spahlinger, dagegen nicht verwerflich: Dann könne man über viele Austragungsländer von großen Sportereignissen diskutieren, außerdem seien die Fußballverbände UEFA und FIFA auch keine "Vereinigungen von Saubermännern". Besonders FIFA-Präsident Joseph Blatter steht seit längerem unter Korruptionsverdacht.



Spahlinger erhofft sich von der Fußball-EM "eine Phase entspannter Freundlichkeit und Freiheit in einem Land, das vom Westen politisch nicht sehr freundlich betrachtet wird." Umgekehrt sei auch die Ukraine dem Westen derzeit politisch nicht sonderlich gut gesonnen. Die jüngsten Protestbewegungen in Russland gegen Wladimir Putin finde er "sehr faszinierend": "Das sind neue Entwicklungen, die Mut machen können auch für die Länder drumherum."