Wiederaufbau der Grablege von Frankreichs Königen

Neuer Streit um den Kirchturm von Saint-Denis

Eigentlich sollte der spektakuläre Turmbau längst angelaufen sein. Die Verzögerung nutzen nun Denkmalschützer, noch einmal dagegen Sturm zu laufen. Die Grablege von Frankreichs Königen soll attraktiver werden - aber wie?

 (DR)

Der Pariser Norden hat eine bleischwere Arbeitervergangenheit, seit die Stadt im 19. Jahrhundert die stinkenden Schlote der Industrialisierung aus dem Zentrum hinausbeförderte. In Saint-Denis liegt das "Stade de France", 2015 Schauplatz eines islamistischen Terroranschlags.

Die Vorstadt ist zu quasi 100 Prozent zubetoniert. Trabantensiedlungen, Tristesse, Kriminalität, sozialer Brennpunkt; aber auch die Wiege der französischen Gotik und Bestattungsort von Dutzenden von Frankreichs Königen. Ein teures Bauprojekt soll demnächst endlich mehr Touristen anziehen. Doch die Kritik daran will nicht verstummen.

Turm wurde wegen Einsturzgefahr abgetragen 

Mitte des 19. Jahrhunderts war der Nordturm der frühgotischen Basilika von Saint-Denis, lange Zeit der höchste der Region, wegen Einsturzgefahr abgetragen und nicht erneuert worden. Seit über drei Jahrzehnten wird über seinen Wiederaufbau diskutiert. Das Gebäude müsse sein ursprüngliches und würdiges Gesicht zurückerhalten, sagen die Befürworter.

Die Gegner warnen vor Verschandelung und berufen sich auf die Denkmalpfleger-"Charta von Venedig". Darin heißt es, dass historische Bauten nicht willkürlich oder auf aufgrund von Vermutungen verändert werden dürften.

Bereits 2017 gab der französische Staat als Besitzer des Gebäudes Grünes Licht für das Projekt des kommunistischen Bürgermeisteramtes. Es will damit endlich mehr Touristen anziehen, das Image der verrufenen Banlieue verbessern und die Stadtentwicklung fördern. Denn obwohl die Basilika sogar mit der Pariser Metro erreichbar ist, kommen pro Jahr gerade mal gut 100.000 Besucher.

Spenden für Notre Dame kommen Saint-Denis zugute

Und auch die Finanzierung des Wiederaufbaus steht. Die frühere Abteikirche profitierte sogar von den erfolgreichen internationalen Spendenkampagnen für die beim Brand 2019 schwer beschädigte Pariser Kathedrale Notre-Dame.

Zum Jahreswechsel 2020/21 bewilligten die sieben Departements der Ile-de-France 20 Millionen Euro: vor der Brandkatastrophe beschlossene, aber umgewidmete Gelder zur Restaurierung von Notre-Dame, die aufgrund der internationalen Spenden nach dem Brand vorerst nicht benötigt wurden. So kam nun Saint-Denis zum Zug - und die eigentliche Finanzierungsidee wurde obsolet.

Ab 2020 sollten eigentlich zunächst ein Handwerkerdorf und ein Aussichtsturm errichtet werden. So hätten zahlende Besucher beobachten können, wie ein Turm im Mittelalter gebaut wurde - nämlich komplett per Hand. Die Einnahmen, so der Plan, hätten öffentliche Zuschüsse unnötig gemacht; ähnlich wie bei der Sagrada Familia in Barcelona, nur eben mittelalterlich.

128 Experten kritisieren Wiederaufbau-Pläne

Dass die Corona-Pandemie und Änderungen im ursprünglichen Konzept den Beginn der Arbeiten verzögerten, nutzten nun 128 Experten - Historiker, Archäologen, Kuratoren etc. -, um im Wochenmagazin "Le Point" noch einmal das gesamte Wiederaufbauprojekt infrage zu stellen. Man sei alarmiert über mögliche Beschädigungen der Bausubstanz und des Gesamtcharakters der Basilika.

So könnte etwa ein Friedhof des Hochmittelalters, einschließlich der Grabkammer von Frankenkönig Pippin dem Kurzen (751-768), dem Vater Karls des Großen, teilweise oder völlig zerstört werden, so eine der Befürchtungen. Weitere Einwände sind die geplante Einspritzung von Fugenmörtel in mittelalterliches Mauerwerk sowie der Einbau von Metallankern, "die eine der ersten Fassaden der Gotik verzerren, die zudem gerade erst restauriert wurde".

"Werden die Archäologen ihre Arbeit machen lassen"

Chefarchitekt Jacques Moulin und Julien de Saint Jores, Vorsitzender des Vereins "Suivez la Fleche" (Folge dem Pfeil = Turmspitze), werfen den Kritikern im Gegenzug sachliche Fehlurteile und "Unkenntnis der Projektakten" vor. "Wir rühren den vermeintlichen Bestattungsort von Pippin dem Kurzen absolut nicht an", sagte de Saint Jores der Zeitung "La Croix". An dem Teil, an dem tatsächlich Arbeiten stattfinden sollen, würden gemäß allen gesetzlichen Bestimmungen auf 18 Monate veranschlagte Sicherungsgrabungen stattfinden; "und wir werden die Archäologen ihre Arbeit machen lassen."

Bei den Metallankern zur Stabilisierung des Turms handele es sich um eine "banale, wirtschaftliche, effektive und vor allem reversible Maßnahme, wie sie in der Denkmalpflege üblich" sei. Sie sei "in keiner Weise an der Fassade sichtbar". Auch der Einsatz von Kalk und Beton diene allein der Stabilisierung des Turms. Am meisten irritiert die Projektleiter der Vorwurf der Kritiker, man wolle einen pseudomittelalterlichen Fantasieentwurf realisieren. Es gehe seit jeher um den Wiederaufbau des Turms im Zustand von 1847.

Auch unter den Anwohnern des sozialen Brennpunktes Saint-Denis sind die Meinungen sehr geteilt. Während die einen argumentieren, es gebe genügend anderes zu tun, etwa für Jugend und Sozialprojekte, meinen andere, mehr sichtbare Attraktivität des Stadtteils bringe auch mehr Touristen und damit mehr Einnahmen vor Ort. Einstweilen ist abzuwarten, ob die Macher nun den neuen Zeitplan einhalten können. Die archäologischen Grabungen sollen demnach im Januar beginnen, die Arbeiten am Turm im Frühjahr 2023.

Von Alexander Brüggemann


Quelle:
KNA