Zum 100. Geburtstag des Künstlers Joseph Beuys

Fett, Filz und Fieberträume

War er ein Prophet oder ein Scharlatan? Joseph Beuys hätte an diesem Mittwoch seinen 100. Geburtstag gefeiert. Weil er die Grenzen der Kunst herausforderte, zählt er zu den bedeutendsten Kulturschaffenden der Nachkriegszeit.

Autor/in:
Anita Hirschbeck
Den Filzanzug (1970) von Joseph Beuys schaut sich im Ruhrmuseum eine Fachbesucherin an / © Roland Weihrauch (dpa)
Den Filzanzug (1970) von Joseph Beuys schaut sich im Ruhrmuseum eine Fachbesucherin an / © Roland Weihrauch ( dpa )

Der Künstler Joseph Beuys wäre am 12. Mai hundert Jahre alt geworden. Noch heute verehren seine Anhänger den Mann mit Filzhut und Anglerweste wie einen Messias. Er selbst inszenierte sich als Schamane und Heilsbringer.

Kritiker hielten den Bildhauer, Aktionskünstler und Kunstprofessor mindestens für einen Selbstdarsteller. Manch ein Zeitgenosse bezweifelte gar, ob es sich bei einigen seiner Werke überhaupt noch um Kunst handelte. Zu weit erschien ihnen Beuys Auffassungen und Begrifflichkeiten.

Freiwillig bei der Luftwaffe

Am 12. Mai 1921 wurde Joseph Heinrich Beuys in Krefeld geboren. Sein Vater, ein Kaufmann, schickte den Jungen in die Katholische Volksschule und später aufs Gymnasium. Als 19-Jähriger - es ist das Kriegsjahr 1941 - geht Beuys freiwillig zur Luftwaffe. Er lässt sich für zwölf Jahre verpflichten.

Verheimlichen wird er diesen Lebensabschnitt später nicht. Im Gegenteil: Der Kriegseinsatz wird ihm als ein Mythos für sein künstlerischen Schaffen dienen. Immer wieder erzählte er die Geschichte, wie sein Kampfflugzeug 1944 über der Krim abgeschossen wurde, herumziehende Tataren ihn fanden und tagelang aufpäppelten. Sie hätten ihn mit Fett eingerieben und in ein Filzzelt gelegt, damit er warm bliebe.

Mit dieser Legende erklärte Beuys seine Vorliebe für die Materialien Fett und Filz. Jedoch: Sie ist nicht wahr. Recherchen von Medien und Künstlerkollegen zeigen, dass Beuys Flugzeug am 16. März 1944 zerschellte. Bereits am Tag darauf wurde der Überlebende in ein Militärlazarett eingeliefert.

Große und kleine Legenden

Seine Frau Eva hielt die Geschichte von den Krim-Tataren für einen Fiebertraum. Große und kleine Legenden schmücken auch Beuys Werke. Ab 1946 studierte er an der Staatlichen Kunstakademie Düsseldorf. Als Meisterschüler des Bildhauers Ewald Matare arbeitete er unter anderem am Mosaik für das Südportal des Kölner Doms mit.

Später schrieb er auf Fotocollagen des fertig gestellten Portals "Mein Rasierspiegel fehlt" und deutete somit an, er habe seinen Rasierspiegel in das Mosaik eingebaut. "Ich hatte auf einmal das Bedürfnis, da müsste etwas rein, was Licht wirft", erklärte der Künstler in einem Interview.

Spiegel und Säuglingsbadewanne

Heute ist der Spiegel verschwunden. Der Mörtel der Nachkriegsjahre hielt wohl das Metall auf der Rückseite des Spiegels nicht, vermutete Beuys schon 1980. Noch so eine Geschichte: 1960 bearbeitete Beuys eine Säuglingsbadewanne, in der er selbst als Kind gebadet worden sei, mit Heftpflaster, Mullbinden, Fett und Kupferdraht.

Jahre später wurde das Werk in einem Museum in Leverkusen zwischengelagert, wo es bald ausgestellt werden sollte. Allerdings kam die Party eines SPD-Ortsvereins in der Einrichtung dazwischen. Vergeblich suchten zwei Parteimitglieder nach einer Schüssel, um Gläser zu spülen - bis sie auf die Wanne stießen. Ohne zu ahnen, dass es sich um ein Kunstwerk handelte, machten sie das Gefäß sauber und spülten darin ab.

Lehrstuhl an der Düsseldorfer Kunstakademie

Die Stadt Wuppertal, die die Wanderausstellung nach Leverkusen organisiert hatte, musste 58.000 Mark Schadenersatz an den Kunstsammler zahlen, der die Wanne als Leihgabe zur Verfügung gestellt hatte. 1961 wurde Beuys an den Lehrstuhl für monumentale Bildhauerei der Düsseldorfer Kunstakademie berufen.

Er war ein beliebter Lehrer, der für einen Professor der damaligen Zeit ungewöhnlich greifbar und wenig bevormundend wirkte. Beinahe täglich ging er in die Universität - auch am Wochenende. "Beuys war wie so eine Hebamme", beschreibt sein Schüler Johannes Stüttgen in einem SWR-Dokumentarfilm von 2001 den Lehrstil Beuys.

Immer öfter machte der Professor mit Aktionskunst von sich reden. Er wusch anderen die Füße, erklärte einem toten Hasen eine Ausstellung und ließ sich bei einem New-York-Besuch von einem Krankenwagen in eine Galerie fahren, wo er mehrere Tage mit einem Kojoten verbrachte.

"Soziale Plastik"

Beuys vertrat die Idee eines "erweiterten Kunstbegriffs" und der "sozialen Plastik". In seinen Augen war jeder Mensch ein Künstler. Herkömmliche Ausdrucksformen hinterfragte Beuys ebenso wie die üblichen Zulassungsverfahren der Düsseldorfer Kunstakademie.

Weil er Bewerber in seine Klasse aufnahm, deren Mappen zuvor abgelehnt worden waren, kam es Anfang der 1970er-Jahre zum Eklat. Beuys besetzte wiederholt mit einigen Studierenden das Sekretariat der Hochschule, um die Immatrikulation der Bewerber zu erreichen. Schließlich entließ ihn der damalige nordrhein-westfälische Wissenschaftsminister Johannes Rau (SPD) fristlos.

In einem Atemzug mit Warhol

Seine Anhänger reagierten empört. Studierende demonstrierten, weltweit setzten sich Künstlerkollegen für den Geschassten ein. Schon zu Lebzeiten zählte Beuys zu den bedeutendsten Künstlern der Nachkriegszeit und wurde oft in einem Atemzug mit Andy Warhol genannt.

1980 kam es zu einem Vergleich vor Gericht: Beuys durfte den Professorentitel behalten, das Arbeitsverhältnis wurde aber aufgelöst. Zu jener Zeit engagierte sich Beuys bereits für die Grünen. Sein politischer Einsatz war vermutlich auch von der esoterischen, ganzheitlichen Lehre der Anthroposophie beeinflusst, mit der sich der Künstler bereits als junger Mann auseinandergesetzt hatte.

Documenta 7 in Kassel

Fett, Filz, Honig und Kupfer begriff er als Materialien, die Wärme speichern oder Energie leiten. Das Organische sollte seiner Ansicht nach Einzug in Wissenschaft und Kunst finden. Eine seiner spektakulärsten Aktionen startete 1982 auf der Documenta 7 in Kassel: Über die ganze Stadt verteilt pflanzte er zusammen mit Helfern insgesamt 7.000 Eichen.

Den letzten Baum setzte sein Sohn Wenzel während der Documenta 8 fünf Jahre später. Joseph Beuys starb am 23. Januar 1986 im Alter von 64 Jahren nach einer Lungenerkrankung.

Zum 100. Geburtstag finden in vielen deutschen Städten Baumpflanzaktionen, Ausstellungen, Vorträge, Filmabende und Konzerte statt - je nach Pandemielage. Ein Überblick zum Jubiläumsjahr steht unter www.beuys2021.de.

Quelle:
KNA