Erste Sätze großer Werke zum Welttag des Buches

Türöffner und Verführer

Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, heißt es bei Hermann Hesse. Das gilt auch für erste Sätze berühmter Bücher. Eine kurze Leseprobe zum Welttag der Bücher, der jedes Jahr am 23. April stattfindet.

Autor/in:
Christoph Arens
Lesegenuss in der Sonne / © Kay Nietfeld (dpa)
Lesegenuss in der Sonne / © Kay Nietfeld ( dpa )

"Es war einmal..." Das ist der klassische erste Satz vieler Märchen. Dabei haben die Gebrüder Grimm nicht das Copyright auf diese Formel - sie findet sich schon im 16. Jahrhundert und auch in vielen anderen Sprachen.

Fest steht aber, dass erste Sätze eine große Bedeutung für Bücher haben - wie kurze Leseproben zum "Welttag des Buches" am Freitag zeigen. "Erste Sätze sind vielleicht die zentralen Sätze eines jeden Romans, einer jeden Erzählung, denn von ihnen hängt ab, ob das Buch Gefallen findet, ob man weiterliest", sagt der Berliner Literaturwissenschaftler Peter-Andre Alt. Vor einem Jahr hat der derzeitige Präsident der Hochschulrektorenkonferenz ein spannendes Buch über "Erste Sätze der Weltliteratur und was sie uns verraten" veröffentlicht.

Der erste Eindruck zählt

Manche Buchanfänge sind so prägnant, dass jeder sofort weiß, in welchem Werk man sich befindet. "Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort", so beginnt das Johannes-Evangelium. Und "Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Und die Erde war wüst und leer, und Finsternis lag auf der Tiefe", so lautet der erste Satz der Bibel, des Buches der Bücher.

Ob Journalistenschulen oder Schreibschulen für angehende Autoren: Viele nehmen die Kunst des ersten Satzes sehr ernst. Der erste Eindruck zählt - das gilt für Roman und Reportage. Der erste Satz kann eine Atmosphäre aufbauen, ist ein Türöffner und Verführer.

Ein Beispiel? "Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist unglücklich auf ihre Art." So beginnt Tolstois "Anna Karenina". Alt bezeichnet ihn als einen der großen klassischen Romananfänge: Ein Satz, der sehr viel über Literatur aussagt, denn vom Glück kann man nicht so gut erzählen wie vom Unglück - weil es so vielfältig ist.

Der erste Satz: Versprechen, Duftmarke, Rätsel, Schlaglicht

Erste Sätze können Spannung erzeugen: "Zugegeben: ich bin Insasse einer Heil- und Pflegeanstalt", so eröffnet Günter Grass seine "Blechtrommel". Sofort fragt sich der Lesern, ob er diesem Erzähler trauen kann. Auch im ersten Satz seiner "Mutmaßungen über Jakob" hat Uwe Johnson schon die ganze Geschichte versteckt: "Aber Jakob ist immer quer über die Gleise gegangen", heißt es. Jakob ist der Widerspenstige und Unangepasste, der den geradlinigen Weg nicht mag. "Mit dem ersten Satz wird der Stein ins Rollen gebracht. Der erste Satz ist Versprechen, Duftmarke, Rätsel, Schlaglicht - kurz: der Brühwürfel, mit dem die ganze folgende Suppe gekocht wird", sagt Schriftsteller Thomas Brussig.

Die großen Autoren der Antike, berichtet Alt, hätten zu Beginn ihrer Erzählungen zunächst den Beistand der Götter gesucht. "Erzählen ist nichts, was man aus eigenem Antrieb tut, sondern man wird dazu inspiriert durch höhere Mächte." Auch später, im 16. und 17. Jahrhundert, mussten sich die Erzähler für ihre Romane rechtfertigen, weil sie ja erfundene (Lügen)Geschichten waren. Erst nach und nach gewann die Literatur Selbstbewusstsein und Gestaltungsspielraum.

Von Kafka lernen

Als einen Großmeister des ersten Satzes bezeichnet Alt Franz Kafka. "Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne, dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet." So beginnt Kafkas "Prozess". Es gibt keine Sicherheiten: Es gibt eine Verleumdung, es gibt eine Verhaftung, aber keine Tat und keinen Ankläger. Ebenfalls mit einem Albtraum beginnt Kafkas Roman "Die Verwandlung": "Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt."

Mit ersten Sätzen tun sich viele Autoren schwer. Von Kafka etwa wird berichtet, dass er dem riesigen Druck ausgewichen ist und den ersten Satz erst spät festgelegt hat. Literatur ist oft mehr Arbeit und Montage als genialer Einfall.

Außerdem: "Der Romananfang ist wichtig, ohne Zweifel, sollte allerdings auch nicht überbewertet werden", rät Alt zur Gelassenheit. Es nützt nichts, wenn der erste Satz ausgezeichnet ist, der Rest des Romans aber geringe Qualität hat. Auch Bücher mit einem eher nüchternen oder sogar ungelenken ersten Satz können gut sein. Und vielleicht reißt ja der letzte Satz noch vieles heraus. Etwa: "...und wenn sie nicht gestorben sind..."


Quelle:
KNA
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