Vor 70 Jahren wurde Günter Eichs Hörspiel "Träume" gesendet

Aus der Sofaecke aufgeschreckt

Mit seinem Hörspiel "Träume" traf Günter Eich 1951 genau den Nerv der Nachkriegszeit. Die Radioproduktion des Nordwestdeutschen Rundfunks setzte künstlerisch Maßstäbe und provozierte heftige Hörerreaktionen.

Autor/in:
Diemut Roether
Ein altes Radio / © jakkapan (shutterstock)

Der Autor hatte alles andere als Erbauung im Sinn: "Wenn es mir gelänge, den Hörer aus seiner Sofaecke aufzuschrecken, so wäre mein Ziel erreicht. Insofern würde ich auch Proteste begrüßen, eben als Zeichen der Beunruhigung", sagte Günter Eich (1907-1972) vor der Ursendung seines Hörspiels "Träume" am 19. April 1951 im NWDR. Und wie es ihm gelang: Die Hörer waren nicht nur aufgeschreckt, sie waren empört: "Sagen Sie mal, was für'n Mist verzapfen sie heute Abend schon wieder im Rundfunk? Das ist zum Kotzen! Hängen Sie sich Ihre ganzen Hörspiele an'n Nagel, wissen Sie. Schweinemäßig ist das ..."

Shitstorm der 1950er

Heute würde man das, was der Nordwestdeutsche Rundfunk, der bis Mitte der 1950er Jahre auch für Nordrhein-Westfalen zuständig war, vor 70 Jahren erlebte, einen Shitstorm nennen, nur, dass die Beschimpfungen per Telefon kamen: "Grauenhaft", "eine Zumutung", "haarsträubend", "katastrophal", so lauteten die Urteile der Anrufer. Ein Hörer fragte, ob man den Autor nicht einsperren könne.

In den "Träumen" hat Eich sechs Jahre nach Kriegsende das Katastrophengefühl einer ganzen Generation in unheilvolle Bilder gebrannt: eine Familie, die im dunklen Güterwaggon reist und niemals ankommt, Menschen, die von Termiten innerlich ausgehöhlt werden.

Trotz Ablehnung bei anderem Sender produziert

Der damals 44-jährige Lyriker Günter Eich war Mitglied der Literaten-Gruppe 47 und ihr erster Preisträger. Mit Gedichten wie "Inventur" hatte er sich in den literarischen Neubeginn der "Trümmerliteratur" eingeschrieben. Eine erste Fassung von "Träume" reichte er bereits 1950 bei einem Preisausschreiben des Bayerischen Rundfunks ein. Sein Text wurde abgelehnt. Nur wenige Monate später schickte er eine überarbeitete Fassung an den NWDR, wo der Text mit Begeisterung aufgenommen wurde.

Dramaturgin Gerda von Uslar sagte dem Nachrichtenmagazin "Der Spiegel": "Das Manuskript lief ein, wurde gelesen und ging sofort in die Produktion. Das hat es noch nie bei uns gegeben." Und Regisseur Fritz Schröder-Jahn zeigte sich überzeugt: "Es ist das beste Hörspiel, das wir seit langem hatten, und ich glaube nicht, dass wir in diesem Jahr noch ein besseres bekommen werden."

Düstere Alpträume provozierten

Dass die düsteren Alpträume von fünf Menschen auf fünf Kontinenten keine leichte Kost waren, war den Verantwortlichen bewusst. Der Sender hatte mit Protesten gerechnet. Der "Spiegel" warnte vor der Ausstrahlung vor einer "mörderischen Angelegenheit", und in der Tat erregte vor allem der zweite Traum Anstoß, in dem ein Kind verkauft wird, damit mit seinem Blut ein kranker alter Mann therapiert werden kann. Um dieses Hörspiel Kindern nicht zuzumuten, hatte der NWDR es erst um 20.50 Uhr gesendet.

Die Provokation war kalkuliert, daher schloss sich an das Stück eine Diskussion mit Journalisten, einem Pfarrer und einer Setzerin an. Ein Redakteur und Regisseur Schröder-Jahn saßen an den Telefonen, um die Höreranrufe entgegenzunehmen. Einige Anrufe wurden aufgezeichnet und archiviert, der NDR hat einen Zusammenschnitt der Diskussion und der Anrufe ins Netz gestellt.

Angst, Abwehr und Komplimente

Die "Träume", die auch von Flucht und Vertreibung erzählten, lösten Abwehrreaktionen bei vielen Deutschen aus, die lieber vergessen wollten. Mehrere Hörer beschwerten sich darüber, dass man ihnen in diesen Zeiten, die schon schwer genug seien, so schwere Kost vorsetze. Hier werde den Leuten Angst eingejagt, "ich möchte mal was Nettes hören", sagte einer. Ein anderer: "Wir als Deutsche haben sowieso nichts zu melden."

Und natürlich wurde auch immer wieder darauf hingewiesen, dass die Hörer schließlich für das Programm bezahlten. Im Zusammenschnitt des NDR meldet sich erst ganz am Schluss eine Hörerin, die sagt: "Mein Kompliment für Ihr Hörspiel, ich fand's prima."

"Reaktionen auf Hörspiele waren damals keine Seltenheit", sagt der Hamburger Medienhistoriker Hans-Ulrich Wagner: "Die Hörerschaft war sehr meinungsfreudig." Im Fall von "Träume" seien die aufgezeichneten Höreranrufe Ergebnis einer gezielten Aktion des NWDR beziehungsweise der Hörspielredaktion des Hamburger Senders gewesen: "Sie sind zwar sicherlich spontan, aber alles andere als zufällig. Durch die Presse war die Besonderheit dieses Hörspiel-Ereignisses angekündigt worden; die beiden Mitarbeiter saßen bereit, die Stellungnahmen entgegenzunehmen. 'Träume' war als Hörspiel-Event geplant."

Rundfunk-Autor der Nazi-Zeit

Günter Eich wurde zu einem der bekanntesten Hörspiel-Autoren der 50er Jahre, 1953 erhielt er den Hörspielpreis der Kriegsblinden. Da er auch während des Nationalsozialismus als Rundfunk-Autor gearbeitet hatte, warfen ihm Kritiker später vor, er habe sich finanziell vom Reichsrundfunk abhängig gemacht und außerdem die Aufnahme in die NSDAP beantragt. "Ich habe dem Nationalsozialismus keinen aktiven Widerstand entgegengesetzt. Jetzt so zu tun, als ob, liegt mir nicht", erklärte Eich 1947.

"Träume" aber ist tatsächlich als das Hörspiel-Event in Erinnerung geblieben, als das es geplant war: Bis heute gilt es als eines der wichtigsten Hörspiele der Nachkriegszeit.


Mikrofon / © BrAt82 (shutterstock)
Quelle:
epd