Seit 100 Jahren wird vor dem Salzburger Dom "Jedermann" gespielt

Über einen Mythos

Die Uraufführung des "Jedermann" von Hugo von Hofmannsthal fand 1911 in Berlin statt. Max Reinhardt setzte das Stück zur Eröffnung der Salzburger Festspiele am 22. August 1920 in Szene. Christian Stückl im Gespräch über einen Mythos.

Platz vor dem Salzburger Dom / © saiko3p (shutterstock)
Platz vor dem Salzburger Dom / © saiko3p ( shutterstock )

KNA: Worin liegt die Faszination dieses Mysterienspiels?

Christian Stückl (Theaterregisseuer): (nach kurzer Pause) Mei, ich weiß es auch nicht. Natürlich verkörperten immer große Schauspieler wie Moissi, Hörbiger, Simonischek oder Ofczarek den Jedermann. Das gleiche gilt für die Buhlschaft, die eigentlich eine Nebenrolle ist. An der Geschichte scheiden sich die Geister. Jens Harzer, der bei mir den Tod spielte, meinte, dem Publikum sei es wurscht, was auf der Bühne gesprochen werde, die wollten nur die Schauspieler sehen. Aber es gibt auch jene, die sich berühren lassen. Denn letztlich laufen wir alle vor dem Tod davon.

KNA: Dass das Stück erst in Salzburg zum Hit wurde - lag das an der Kulisse?

Stückl: Der Ort ist schön, aber Reinhardt machte häufiger Freilichtaufführungen. Keine andere wurde zum Renner. Vielleicht war es so kurz nach dem Ersten Weltkrieg der richtige Zeitpunkt, sich mit dem Tod zu beschäftigen.

KNA: Die ans Mittelhochdeutsche angelehnte Kunstsprache ist nicht leicht zu verstehen. Das sah wohl auch Jürgen Flimm so und holte Sie 2002, um auch am Text Hand anzulegen. Botho Strauß und Peter Handke sollen abgewunken haben. Wie gingen Sie es an?

Stückl: Ich hatte den "Jedermann" zuvor noch nie gesehen. Da ich 1990 und 2000 die Passion in Oberammergau gemacht hatte, meinte Flimm in mir den Fachmann fürs Katholische gefunden zu haben. Die letzte Salzburger Vorstellung mit Ulrich Tukur habe ich mir angeschaut. Der meinte nur: "Aha, jetzt kommt das Abbruchteam." Gottes Stimme kam damals aus dem Turm, die Glaubensfigur verstand ich gar nicht. Beim Lesen hatte ich Gott als den altgewordenen Jesus empfunden, der sich beschwert, gelitten zu haben für die Menschheit, die aber daraus keine Konsequenzen gezogen hat.

KNA: Der "Jedermann" als Fortsetzung der Passion?

Stückl: Fast. Für Hans-Michael Rehberg entwickelte ich eine Jesusfigur, die Jahre später im orthodox-jüdischen Sandlergewand mit Wundmalen umhergeht; ein eher verzweifelter Gott, der feststellen muss, dass sich nichts geändert hat. Und was ist der Glaube in der Welt? Eigentlich jemand wie Mutter Teresa. Aber nicht jeder mag leben so wie sie. Mir kamen diese Charaktere wie barocke Altarfiguren vor, deren Sinn keiner mehr versteht. Deshalb versuchte ich alles etwas auf den Boden herunterzuholen. Aber wie erzählt man heute, dass Du durch den Glauben an Jesus Christus gerettet wirst?

KNA: Und wie macht man es?

Stückl: Über diese Glaubensfragen habe ich am meisten mit Simonischek gerungen. Das war der Hammer. Noch nie hatte ich außerdem erlebt, dass die Schauspieler alle Regieanweisungen befolgten. Wenn es "kniet sich hin" hieß, wurde das gemacht. Als ich nach dem Warum fragte, kam als Antwort: Wir kennen uns doch nicht aus mit dem katholischen Zeug. Dann machen wir es halt. Da waren viele Diskussionen und Erklärungen nötig.

KNA: Den Kirchen laufen die Leute davon, doch die Nachfrage nach "Jedermann"-Karten ist hoch. Wird da Kunst zur Ersatzreligion?

Stückl: Wir suchen uns doch alle Ersatzreligionen. Die einen machen Yoga, andere essen nur noch vegan. Wer zum "Jedermann" geht, will nicht Religion erleben, es geht um den Event. Mich hat mal jemand gefragt, ob ich wirklich verkünden wolle, dass das größte Dreckschwein Gnade vor Gott findet. Die einen finden die Story eben einen Schmarrn, die anderen sind am Ende deprimiert, wenn da der schwarze Sarg steht. Aber wie es weitergeht, weiß keiner, auch wenn Hoffnung da ist. Eine Tante von mir, die immer gegen die fromme Oma stichelte, ließ am letzten Tag den Pfarrer rufen. Sicherheitshalber.

KNA: Brauchen wir nicht die Konfrontation mit dem Tod?

Stückl: Manchmal denke ich, dafür taugt der Brandner Kaspar besser. Jeder wünscht sich, den Tod zu bescheißen und so lange wie möglich zu leben. Dafür machen wir Sport und stellen unser Essen um. Ich habe mal überlegt, den "Jedermann" in Oberammergau zu machen. Dafür müsste er aber komplett umgeschrieben werden. In der Fassung von Hofmannsthal steckt ein verqueres Gottesbild, auch der Blick auf die Sünde ist nicht schlüssig. Man könnte eine dekadente Kirche zeigen, die Jesus schon lange rausgeworfen hat, und Leute, die sich für die Schöpfung einsetzen. Aber ein Moralapostel-Spiel will ich auch nicht inszenieren.

KNA: Doch Sie treibt noch etwas um - oder?

Stückl: Ja, die Frage, ob Gott in die Welt eingreift. Ich glaube nicht. Papst Franziskus deutet die Vaterunser-Bitte "führe uns nicht in Versuchung" meiner Meinung nach richtig, wenn er sie interpretiert mit "und führe uns in der Versuchung". An der Schöpfungsgeschichte gefällt mir, dass Gott den Menschen die Welt in einem paradiesischen Zustand übergibt und sie warnt, nicht die Früchte eines bestimmten Baumes zu essen. Wenn doch, dann wisst ihr, was ich für Probleme mit euch habe. Aber sie machen es, um selber zu entscheiden, was gut und böse ist. Man kann deshalb auf Gott keinen Krieg schieben und ihn nicht für Schicksalsschläge verantwortlich machen.

KNA: In Salzburg haben Sie aus dem Guten Gesell und dem Teufel eine Person gemacht. Warum?

Stückl: Der Jedermann hat die falschen Freunde. Sein bester Freund, merkt er später, ist der Teufel. Dem habe ich auch die Sätze des Glaubens gegeben. Ich fand das viel spannender, wenn der Teufel vom Jedermann wissen will "Glaubst Du an Jesus Christus?" und damit testet, ob er es über die Lippen bringt.

Das Interview führte Barbara Just.


Christian Stückl / © Harald Oppitz (KNA)
Christian Stückl / © Harald Oppitz ( KNA )
Quelle:
KNA