Tessiner Brauchtum der Karwoche nun Immaterielles Kulturerbe

Vom Lärm auf dem Kreuzweg bis zu stiller Trauer

Die Kar- und Osterumzüge in Mendrisio im Schweizer Tessin sind nun Immaterielles Kulturerbe. Das bis ins 16. Jahrhundert reichende Brauchtum vereint Volksfrömmigkeit und eine Dramaturgie des Leidens und Sterbens Jesu.

Karprozession in Mendrisio (shutterstock)

 In Mendrisio, zwischen dem Luganer See und der italienischen Grenze gelegen, fiebern die rund 15.000 Bewohner ab Gründonnerstagmorgen den Karprozessionen entgegen. Hunderte Darsteller vom Kindergartenalter an aufwärts sind mit letzten Vorbereitungen beschäftigt. Dazu kommen Hunderte Helfer - von den Arrangeuren der Kostüme über die Bewohner, die die alten Laternen an den Häusern befestigen, bis zu den Hilfskräften, die den kilometerlangen Prozessionsweg durch die Altstadt sichern.

Ähnlichkeit mit mittelalterlichen Volksschauspielen

Höchste Anspannung bei Organisator Gabriele Ponti: Erst am Morgen zuvor werden die Bewerber informiert, wer in der abendlichen Prozession Jesus, Maria, Maria Magdalena und Veronica darstellen darf. Andererseits steht Ponti ständig in Verbindung mit den Meteorologen. Bei Regen kann die Prozession nicht wie geplant stattfinden, weil die einzigartigen Kostüme und die handbemalten Laternen nicht nass werden dürfen. "2018 entstand durch einen überraschenden Schauer ein Schaden von 30.000 Franken", berichtet Ponti.

Immaterielles Kulturerbe der Unesco

Weltweit fördert die Weltkulturorganisation Unesco seit 2003 den Erhalt von Alltagskulturen und -traditionen. Die dazu formulierte "Konvention zur Erhaltung des Immateriellen Kulturerbes" haben 180 Staaten unterzeichnet, 2013 auch Deutschland. Die Liste des Immateriellen Kulturerbes ist unabhängig von der Weltkulturerbeliste mit schützenswerten Natur- und Kulturstätten.

UNESCO Hauptquartier in Paris / © Pompidu (shutterstock)
UNESCO Hauptquartier in Paris / © Pompidu ( shutterstock )

Die Prozession am Gründonnerstag hat Ähnlichkeit mit mittelalterlichen Volksschauspielen. Seit einer Neuordnung von 1798 ist ihre Abfolge fast unverändert: rund 270 kostümierte Darsteller, davon rund 40 zu Pferd, darunter Herodes, Pontius Pilatus oder berittene römische Soldaten. Dramatisch kündet ein Trompeter den Zug an, der von der alten Serviten-Kirche San Giovanni durch die enge Altstadt und am Hauptplatz vorbei bis zur Kapuziner-Kirche und wieder zurück führt.

Von der Gefangennahme bis zur Kreuzigung

Dargestellt wird die Passion Christi von der Gefangennahme bis zur Kreuzigung. Da schreien die Hebräer, die Jesus am Kreuz sehen wollen; da laufen junge Männer mit den Marterwerkzeugen hin und her; da versuchen Jünger ihm beizustehen, die aber versagen. Auch die drei Marien, Joseph von Arimathäa oder Nikodemus sind zu erkennen. In der Mitte trägt der leidende Christus schweigend das Kreuz, unterstützt von Veronika und Simon von Cyrene.

Alle Darsteller sind Bürger des Ortes. Bisweilen erscheint das laute Spektakel als eine respektlose, fast karnevalistische Anspielung des Volkes auf die ursprünglichen liturgischen Zeremonien, die in den Kirchen gefeiert werden. Seit einigen Jahrzehnten legen die Veranstalter aber Wert darauf, dass der Ernst bei den "Spielszenen" nicht in Klamauk umschlägt. Die Zuschauer betrachten den Zug in der Regel still.

Ganz anders der "Entierro", die Beerdigung Christi am Karfreitag: Mehr als doppelt so viele Darsteller wie am Abend zuvor, über 700, gruppieren sich um zwei Statuen; den liegenden Leichnam des gestorbenen Christus und der stehenden Schmerzensmutter Maria. An diesem deutlich religiöser geprägten Umzug nehmen nun auch der Klerus und die Ordensgemeinschaften des Ortes teil; sie gehen unmittelbar vor den Statuen.

Regionale Volksfrömmigkeit

Es ist die wahrscheinlich ältere, auf jeden Fall aber die feierlichere Prozession. Ihr Kerngedanke hat sich wahrscheinlich in der Gegenreformation nach dem Trienter Konzil (1545-1563) entwickelt, um katholische Glaubensüberzeugungen tiefer in der Volksfrömmigkeit zu verankern.

Mehrere Bruderschaften und religiöse Vereine haben hier unterschiedliche Aufgaben. Kinder und Jugendliche tragen von Kerzen beleuchtete Laternen. Sie tragen farbige Gewänder mit Schulterkragen wie Messdiener. Dazu kommen liturgische Gegenstände wie Weihrauch oder Vortragekreuze. Zwei Blaskapellen spielen Trauermärsche.

Augenfällig sind vor allem die Laternen und Lampions, deren älteste bis um 1790 zurückreichen. Sie sind vor allem aus Wachspapier, selten aus Glas, in verschiedenen geometrischen Formen angefertigt. Diese Kunstwerke werden in den Prozessionen mitgetragen oder an den Häusern der Altstadt befestigt. Manche bilden auch Brücken quer über die Gassen. In der Karwoche stehen die ältesten Laternen während der Gottesdienste in der Hauptkirche. Seit einigen Jahren gibt es ein Laternenmuseum in der "Casa Croci".

Während der Umzüge leuchten nur noch die Trasparenti und einige ausgewählte Scheinwerfer; der gesamte Ort ist auf das religiöse Schauspiel konzentriert. Viele Besucher kommen seit Jahren hierher, so auch Antonella Roncoroni. Am Karfreitag tauchen die Laternen die Stadt in ein eindringliches Licht. "Der religiöse Effekt sitzt bei uns immer sehr tief", sagt Roncoroni. Die Stadt ist dann für zwei Stunden fast ganz still - ein "Gänsehaut-Moment", der mit einem Mal die ganze Ernsthaftigkeit des Kar-Geschehens leibhaftig werden lässt.

Quelle:
KNA