Britischer Organist Bowyer spielt Sorabjis Neun-Stunden-Sinfonie

Musik-Marathon in der Elbphilharmonie

Rein körperlich war es eine Herausforderung, die der Leistung eines Spitzensportlers entspricht. Am Ende gab es auch ein regelrechtes Finale.

Die Elbphilharmonie - das neue Wahrzeichen Hamburgs / ©  Christian Charisius (dpa)
Die Elbphilharmonie - das neue Wahrzeichen Hamburgs / © Christian Charisius ( dpa )

Ein Konzert der Superlative: neun Stunden Musik in der Elbphilharmonie. Die zweite Orgelsinfonie von Kaikhosru Sorabji ist gigantisch und fordert Außergewöhnliches vom Interpreten. Doch der britische Organist Kevin Bowyer hat sich von der Herausforderung nicht abschrecken lassen - und sich am Sonntag an dieses Projekt gewagt. An der Klais-Orgel der Elbphilharmonie sorgte der 58-Jährige vom Vormittag an für ein Konzerterlebnis, für das er vom Publikum spätabends stürmisch gefeiert wurde.

Über Jahrzehnte hat sich Bowyer auf dieses Ereignis vorbereitet. Mit der Hamburger Aufführung hat der Universitätsorganist aus dem schottischen Glasgow nun sogar Musikgeschichte geschrieben: Es handelte sich um die bislang erste vollständige Aufführung der zweiten Sinfonie Sorabjis an einem einzigen Tag. Bowyer gilt als Spezialist für Musik, die bis an die Grenzen der Spielbarkeit geht. Auch wenn etwas unspielbar erscheint, der britische Organist spielt es. Stilistische Scheuklappen hat er dabei nicht. Kompositionen von weit über 100 zeitgenössischen Komponisten hat er in seinem Repertoire.

Vor der Aufführung verbrachte Bowyer mehrere Tage in der Elbphilharmonie, um an der Klais-Orgel der Elbphilharmonie die passenden Klangfarben auszusuchen. In 80 Stunden speicherte er 1.475 Registerkombinationen ab. Allein die körperlichen Anforderungen, die dieser Konzertmarathon an den Organisten stellt, sind enorm und entsprechen der Leistung von Spitzensportlern.

Komponist Sorabji durch Zufall entdeckt

Entdeckt hatte Bowyer den Komponisten Sorabji nach eigenen Worten einst durch Zufall. Zunächst galt es, dessen Musik spielbar zu machen: "Das Manuskript besteht aus 300 A3-Seiten. Ich habe es händisch übertragen und erst später richtig gesetzt", erläuterte der Organist im Vorfeld des Konzertes. "Es gibt viele Gründe, wieso man diese Sinfonie nicht vom Manuskript spielen kann. Es ist nicht alles sauber notiert, es gibt viele tausend Probleme, die man lösen muss, bevor man überhaupt beginnen kann, das Werk zu proben." Mehrdeutigkeiten in der Handschrift, Fehler im Rhythmus, Passagen, die physisch kaum oder gar nicht spielbar sind - und für die sich der Interpret etwas einfallen lassen muss.

Wegen dieser Schwierigkeiten wird die Musik des musikalischen Eigenbrötlers Sorabji (1892-1988) nur selten gespielt. Weil die Musik des britischen Komponisten in der Regel als zu lang, zu kompliziert und zu schwer für Interpreten und Publikum eingeschätzt wird, sind nur einige frühe Werke im Druck erschienen.

Elbphilharmonie nicht ausverkauft

Die Aufführung in der Elbphilharmonie war auch deshalb eine Besonderheit, weil der große Saal diesmal nicht ausverkauft war. Ein Erlebnis war das Konzert in erster Linie für ausgesprochene "Orgel-Aficionados und Liebhaber extremer Klangerlebnisse und -formate", wie der Sprecher der Elbphilharmonie es ausdrückte.

Diejenigen, die bis zum Ende durchgehalten hatten, zeigten sich restlos begeistert. "So lange, wie ich in der Lage bin zu spielen, werden Sie auch in der Lage sein zuzuhören", hatte Bowyer dem Publikum zu Beginn Mut gemacht. Er verglich sein Unterfangen mit einer Bergbesteigung: "Am Anfang stehe ich nur im Basislager und schaue zum einschüchternden Gipfel."

Aufgrund der Länge wurde das Sorabji-Projekt in zwei Konzerte aufgeteilt. Bowyer begann morgens um 11.00 Uhr und spielte bis 23.10 - unterbrochen von zwei kurzen Pausen und der Zeit zwischen den beiden Teilen. Schließlich war es vollbracht und ein alle Grenzen sprengendes Konzert endete mit wuchtigen Akkorden, die ein sichtlich erschöpfter Kevin Bowyer in die Tasten hämmerte. Um die Anstrengung deutlich zu machen, zog er folgenden Vergleich: "Wenn das schwerste nicht von Sorabji stammende Werk der Orgelliteratur einer Distanz von 10 Kilometern entspricht, dann entspricht Sorabjis Erste Orgelsinfonie 100 Kilometern - und Sorabjis Zweite Orgelsinfonie 10.000 Kilometern. Das Stück ist einfach ... verrückt."

 


Quelle:
KNA