Zum 50. Todestag Theodor W. Adornos

Die Heilsgeschichte als Gesellschaftstheorie?

Am Dienstag jährt sich der Todestag von Theodor W. Adorno zum 50. Mal. Heute noch gilt der Philosoph als einer der bedeutendsten Ideologiekritiker – auch die Kirche nahm er ins Visier. Doch in seinen Texten findet sich ein theologischer Kern.

Schriftsteller Heinrich Böll, Philosoph Theodor W. Adorno und Verleger Siegfried (v.l.n.r.) / © Manfred Rehm (dpa)
Schriftsteller Heinrich Böll, Philosoph Theodor W. Adorno und Verleger Siegfried (v.l.n.r.) / © Manfred Rehm ( dpa )

DOMRADIO.DE: Mit Ihrem Buch "Adorno in Neapel" wollen Sie eine neue Begeisterung für den Philosophen Theodor Adorno wecken. Warum hat er das in Ihren Augen verdient?

Martin Mittelmeier (Autor und Literaturwissenschaftler): Wir merken das zum Beispiel daran, dass Adorno gerade auf der Bestsellerliste mit einem Vortrag über neuen Rechtsradikalismus steht. Das heißt, unsere Zeit kann immer noch den wachen und kritischen Blick gegen Populismus und nationalsozialistischem Gedankengut gebrauchen.

DOMRADIO.DE: Können Sie uns erklären, was sein Denken, seine Philosophie so bedeutsam macht?

Mittelmeier: Er war ein Star, weil er sich herausgenommen hat, alle Felder der klassischen Philosophie ganz selbstverständlich zusammendenken zu wollen – Erkenntnistheorie, Moral und Ästhetik. Und er tat es zu einem Zeitpunkt – nach der Erfahrung des Holocaust –, als es hoch unwahrscheinlich schien, dass man das alles noch gemeinsam denken kann. Wie sollen wir da noch über Moral nachdenken? Wie könnte es sich da lohnen, noch über den schönen Schein nachzudenken? Dass er das trotzdem gemacht hat und daraus sozusagen eine negative Philosophie gewonnen hat, die er in eine kritische Gesellschaftstheorie verwandeln konnte, hat ihn so interessant und so wichtig gemacht.

DOMRADIO.DE: Sie haben sich in Ihrem Buch auch damit beschäftigt, was Adorno persönlich angetrieben hat. Was haben Sie da herausgefunden?

Mittelmeier: Ich glaube, ein wesentlicher Anteil, warum Adorno mit seinen Texten so eine große Wirkung und eine so große Kraft hatte, war ganz einfach der Umstand, dass Adorno eigentlich Musiker werden wollte. Er war in die Schule von Alban Berg (österr. Komponist) gegangen, einem Schüler von Arnold Schönberg (österr. Komponist). Er wollte Neue Musik machen. Er hat sich dann für die Philosophie entschieden, hat aber immer musikalische Themen behandelt und ist in seinen Texten Komponist geworden. Denn für ihn war das Medium, indem man über Sachen schreibt, immens wichtig. Er hat seine Texte komponiert, weil es für ihn das Medium der Erkenntnis war.

DOMRADIO.DE: Adorno war Sohn jüdischer Eltern. Was hatte er denn für eine Einstellung zur Religion?

Mittelmeier: Adorno gehört mit seinen Mitstreitern zu der Generation, die das Heilsgeschehen immer mit marxistischen Perspektiven verknüpft hat. Heilsgeschichte bezeichnet die bessere Gesellschaft, in der man keine Angst mehr haben, keinen Hunger mehr leiden muss. Das ist natürlich eine starke Profanierung des Heilsgeschehens. Gleichzeitig haben seine Texte dadurch einen theologischen Glutkern, wie er selbst gesagt hat. Er lädt Gesellschaftstheorie heilsgeschichtlich auf.

DOMRADIO.DE: Wie stand Adorno zur Kirche?

Mittelmeier: Adorno war einer der schärfsten Kritiker aller möglichen Ideologien – gerade in der Nachkriegszeit. Und da war die Kirche nicht ausgenommen. Es gibt eine schöne Stelle in der "Dialektik der Aufklärung", wo er alles auf totalitäres Gedankengut überprüft. Und da sagt, ihm sei das italienische Muttchen, das eine Kerze für den San Gennaro anzündet, immer noch lieber als die offizielle Kirche.

DOMRADIO.DE: Was können wir uns denn von seinem Denken in die heutige Zeit noch mitnehmen?

Mittelmeier: Eine Unerbittlichkeit im ideologiekritischen Blick. Wo werden Probleme überflogen und falsch benannt? Bei der Sprachkritik auch. Und was ich auch sehr wichtig finde: Dialektisches Denken. Wenn er zum Beispiel über Wagner nachdenkt, dann kommt er zu dem Schluss, dass Wagner sozialrevolutionär und gleichzeitig reaktionär ist – das hört man beides in der Musik. Beides zusammen zu denken, erhöht den Genuss an der Musik. Man muss diese Ambivalenz aushalten.

Das Interview führte Julia Reck.


Quelle:
DR