Literaturwissenschaftlerin über Religion und Glaube bei Fontane

"Letztlich sind wir doch alle Europäer"

Ein Schriftsteller in einer "entkirchlichten Zeit": In punkto Religion lässt sich Theodor Fontane nur schwer festlegen. Anlässlich seines 200. Geburtstags untersucht die Literaturwissenschaftlerin Lütteken Fontanes Religiosität und Hang zur Ironie.

Autor/in:
Von Paula Konersmann
Theodor Fontane Denkmal in Neuruppin / © John Kehly (shutterstock)
Theodor Fontane Denkmal in Neuruppin / © John Kehly ( shutterstock )

Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA): Was ist über die religiöse Prägung in Theodor Fontanes (30. Dezember 1819 in Neuruppin - 20. September 1898 in Berlin) Kindheit bekannt?

Anett Lütteken (Literaturwissenschaftlerin): Ein wenig lässt sich aus seinem autobiografischen Roman "Meine Kinderjahre" in Erfahrung bringen. Es geht zum Beispiel darum, dass seine Familie in der Refugie-Tradition stand, sich also zur französischen Herkunft bekannt hat und damit auch zum reformierten Bekenntnis.

Zugleich schreibt er, seine Mutter sei sehr temperamentvoll gewesen - aber es habe bei ihr keine Spur von "Religionseifer" gegeben. Er beschreibt sie vielmehr als "Kind der Aufklärungszeit". Das lässt sich als sanfter Hinweis lesen: Man war zwar Teil der reformierten Gemeinde im Großraum Berlin-Brandenburg, aber viel mehr nicht.

KNA: Wie sah dieses Gemeindeleben aus?

Lütteken: Viele Dinge, die im 19. Jahrhundert selbstverständlich waren, sind heute nicht mehr präsent. Dazu gehören auch Aktivitäten und Praktiken von Frömmigkeit. Fontane selbst gibt darüber nur bescheidene Auskunft: Gegen Ende seines Lebens schildert er etwa, wie er Weihnachten verbracht hat - jeweils in einem Satz zusammengefasst.

Generell sollte man diesen privaten Menschen von dem Publizisten Fontane trennen. Das Gesellschaftspanorama, das er verfasst hat, ist nicht mit seiner persönlichen Einschätzung gleichzusetzen.

KNA: Welchen gesellschaftlichen Entwicklungen galt Fontanes besonderes Interesse?

Lütteken: Er hat ein Gespür für Inkonsequenzen, für Dinge, die nicht mehr so sind, wie sie sein sollen. Und er interessiert sich für kulturprägende Traditionen - dazu zählt auch die katholische Kirche.

In seinen Reiseberichten schreibt er zum Beispiel über den Kölner Dom, der damals schon ein Touristenziel war: Das habe nichts mit Katholizismus oder Frömmigkeit zu tun, sondern mehr mit einer Art Markttreiben. Er hat gemerkt, dass ihm das durch seine reformierte Sozialisation fremd ist. Allerdings hat Fontane für ein preußisches Publikum geschrieben.

KNA: Das bedeutet?

Lütteken: Preußen und Rheinland hatten ein schwieriges Verhältnis. Insofern verbergen sich hinter einem einfachen Satz komplexe Sachverhalte. Es gibt eine Neigung, eine Sentenz herauszugreifen und für den Beleg zu halten, dass Fontane dieses oder jenes gemeint hat. So einfach ist es nicht.

KNA: Ist das ein Spezifikum bei Fontane?

Lütteken: Es besteht ja generell die Neigung zur Komplexitäts-Reduktion. Bei Fontane ist es besonders schwierig, weil er so ein riesiges Oeuvre hinterlassen hat. Die Forschung muss seine Gedichte genauso im Blick haben wie die "Wanderungen durch die Mark Brandenburg". Und: Die gesamte Frömmigkeitskultur des 19. Jahrhunderts ist uns heute entrückt. Wir sind sehr auf die Moderne fokussiert und kennen die konkreten Bedingungen im damaligen Berlin und Brandenburg nicht besonders gut.

KNA: Fontane lebte in einer Umbruchzeit. Wie hat sich dies in seinem Werk niedergeschlagen?

Lütteken: In einem Gedicht spricht er von der "entkirchlichten Zeit". Historiker benutzen diese Formulierung ebenfalls. Vereinzelt hat Fontane auch Kirchenbesuche dokumentiert: Er berichtet etwa, dass da nur ein paar Waisenkinder und ein paar ältere Frauen sitzen.

Er sieht, dass der Zuspruch schrumpft, dass etwa Feiertage noch im Bewusstsein sind - aber nicht mehr das, was sie eigentlich ausmacht, nämlich der Glaube oder eine bestimmte Frömmigkeitspraxis.

KNA: Welche Fontane-Passagen zu Religion finden Sie besonders bemerkenswert?

Lütteken: Mir gefallen Texte wie "Quitt" oder "Graf Petöfy", in denen Fontane versucht, extreme Spielarten des Glaubens zu beleuchten wie zum Beispiel die Mennoniten; an anderen Stellen des Werks gilt sein Interesse den Herrnhutern und der Grönlandsmission.

In seinem Werk findet sich eine ganze Typologie von Theologengestalten. Besonders gut kommt bei ihm etwa Sebastian Kneipp weg. Auch vor Dorfgeistlichen hatte er großen Respekt: Er war der Ansicht, dass sie oftmals etwas repräsentieren, das Stadtgeistlichen oder Hofpredigern abgeht, nämlich ein großes Herz und große Frömmigkeit.

KNA: Warum ist es so schwierig, beim Vielschreiber Fontane eindeutige Hinweise zu entdecken?

Lütteken: Fontane war als Journalist, als marktabhängiger Autor unterwegs - und schrieb fast immer adressatenorientiert. Hinzu kommt sein Hang zur Ironie. Ein Beispiel: Wenn er schreibt, der Lutherbaum in Worms ist hohl, dann ist das zunächst eine Feststellung.

Man kann aber herauslesen, dass der dazugehörige Protestantismus in der Spielart des fortgeschrittenen 19. Jahrhunderts vielleicht ebenfalls etwas sinnentleert ist. Dieses Changierende lässt viel Spielraum für Interpretationen.

KNA: Im protestantischen Preußen hat Fontane den Katholizismus mit Offenheit betrachtet. War er seiner Zeit voraus?

Lütteken: Ja. Er mag für ein Berliner Lesepublikum schreiben, dass in Köln am Rhein alles ein bisschen merkwürdig ist. Aber er hat immer hohen Respekt, wenn er sieht, dass jemand es ernst meint, authentisch ist und zu seinen Glaubensüberzeugungen steht, und wenn die noch so krude sind. Probleme hat er mit den Aalglatten, den Geschmeidigen, denen es auf Macht ankommt. Da wird er giftig.

KNA: Könnte die heutige Kirche von Fontane lernen?

Lütteken: Er hat viel rhetorische Energie in die Beschreibung von Hofpredigern hineingelegt: Parvenüs, brillant in vielerlei Hinsicht, die aber aus seiner Sicht nicht den Glauben verkörpern. Dieses Establishment in der Kirche - unabhängig von der Konfession - lässt sich sicherlich heute auch noch beobachten.

KNA: Also authentisches Glaubenszeugnis versus Kirchendogma?

Lütteken: Genau. Fontanes Respekt gilt denen, die für den Menschen tätig sind.

KNA: Religion und Glaubensfragen standen für ihn also nicht im Zentrum, haben ihn aber immer wieder beschäftigt.

Lütteken: Es ist mehr. Meines Erachtens ist Fontane der Auffassung, dass Kirche gleichbedeutend ist mit Kultur. Die christlichen Wurzeln des Abendlandes schätzt er sehr hoch, daran arbeitet er sich unentwegt ab. In seinen Reiseberichten beschreibt er es als Katastrophe, wie die Ruinen aus dem Mittelalter saniert werden: nüchtern, hohl, getüncht, fade.

Er merkt, dass eine Tradition abhandengekommen ist, und das beschäftigt ihn. Er stellt die heute wieder aktuelle Frage nach dem gesellschaftlichen Zusammenhalt.

KNA: Also ein sympathisierender Beobachter des Christentums?

Lütteken: Fontane war sicherlich kein strenggläubiger Mensch. Er beschreibt jedoch, wie brüchig die christliche Sozialisation geworden ist - und betont, dass sie doch eigentlich das christliche Europa zusammenhält.

Am Ende kommt man bei ihm wieder zum Anfang zurück, zu dem, was ihm seine Mutter beigebracht hat: Wir sind reformiert, wir sind anders als die Lutheraner oder die Katholiken - aber letztlich sind wir doch alle Europäer.


Brandenburg, Neuruppin: Als rastender Wanderer mit Stock und Hut wird der Dichter Theodor Fontane als Denkmal im Stadtzentrum dargestellt. / ©  Jens Kalaene (dpa)
Brandenburg, Neuruppin: Als rastender Wanderer mit Stock und Hut wird der Dichter Theodor Fontane als Denkmal im Stadtzentrum dargestellt. / © Jens Kalaene ( dpa )
Quelle:
KNA