Wie aktuell sind traditionelle Kirchenlieder?

"Da ist eine kleine Revolution losgetreten worden"

Viele Choräle und Heilslieder sind schon einige hundert Jahre alt. Nach und nach verschwinden sie aus dem öffentlichen Bewusstsein. Dabei können sie uns eine Menge über unsere Gegenwart verraten. Autor Daniel Schneider ist davon überzeugt.

Noten am Klavier / © Jörg Löffke (KNA)
Noten am Klavier / © Jörg Löffke ( KNA )

DOMRADIO.DE: Herr Schneider, Sie untersuchen in Ihrem Buch "Glaube, Hoffnung, Liebe" 36 verschiedene Liedtexte. Was für Lieder sind das?

Daniel Schneider (Theologe und Journalist): Das sind die alten Kirchenliederschätzchen, die man, wenn man so in der Bank im Gottesdienst sitzt, schnell mal überblättert. Es ist eine Auswahl aus verschiedenen Epochen und Jahrhunderten getroffen worden. Da sind mehr oder weniger bekannte Lieder dabei, viele von Paul Gerhardt, Philipp Spitta, Gerhard Tersteegen, oder Nikolaus Ludwig von Zinsendorf – also, die unterschiedlichsten Schätzchen, die wieder neu entdeckt wurden.

DOMRADIO.DE: Die alten Lieder werden hier neu entdeckt und interpretiert. Was für Entdeckungen haben Sie denn gemacht und niedergeschrieben?

Schneider: Es war wirklich sehr, sehr spannend. Ich musste mich ein bisschen zwingen, mich damit auseinanderzusetzen, weil das so ein bisschen verstaubt klingt, wenn man an Lieder aus dem 15. oder 19. Jahrhundert denkt. Dann war es aber so, als ob die alten Kirchenliederdichter mir die Tür aufgemacht und gesagt hätten: "Hey, guck mal rein. Das ist ganz, ganz viel Aktuelles drin!".

Erst einmal war es interessant, biografisches über die Liederdichterinnen und Dichter herauszufinden. Danach gab es ganz viele Entdeckungen, zum Beispiel bei dem Lied "O komm, du Geist der Wahrheit" von Philipp Spitta. Das kommt aus einer ganz anderen Epoche, aber ich habe viele Parallelen zu heute entdeckt. Damals war die Welt auch in Aufruhr, ganz viele Entdeckungen wurden gemacht. Es war eine interessante Zeit, aber auch eine sehr dunkle Zeit, in der es viele Kriege gab. Auch damals gab es Fluchtbewegungen.

Und in dieser Zeit hat Philipp Spittar gedichtet: "O komm, du Geist der Wahrheit und kehre bei uns ein". Er wollte Gott mit der Gesellschaft in Verbindung bringen, aber er hat dabei nicht so vollmundig behauptet: "Ich habe die Wahrheit gepachtet. O komm, du Geist der Wahrheit und kehre bei denen ein, die noch nicht so glauben wie ich", sondern er war offen und hat gefragt: "Wo finden wir Orientierung in dieser Zeit? Es ist so viel im Umbruch. Was passiert mit uns? Und ich möchte, dass Du, Gott, mit dabei bist." Das war eine Parallele, die ich im Jahr 2019 nicht so verkehrt finde.

DOMRADIO.DE: Musik kann ja vor allem auch emotional berühren. Haben Sie denn beim Durchgehen dieser Liedtexte bemerkt, dass Sie irgendwas wirklich berührt hat und in Erinnerung geblieben ist?

Schneider: Ja, total. Es gibt eine Dichterin, die mich immer noch begleitet, die heißt Julie Katharina von Hausmann. Das Kapitel über sie ist mit dem Titel "Von einer Stillen im Lande" überschrieben. Julie Katharina von Hausmann fand sich nicht attraktiv, sie war oft krank und sie dachte, dass sie nichts kann. Als sie zu dichten anfing, hat sie gesagt, dass kein einziger ihrer Liedtexte an die Öffentlichkeit gelangen darf. Eine Freundin von ihr hat das aber anders gesehen und sie überredet, etwas zu veröffentlichen. Und daraus ist das weltbekannte Lied "So nimm denn meine Hände" entstanden.

Sie war ein ganz stiller und demütiger Star. Aber sie hat 1862 so ein Lied rausgehauen, das damals wahrscheinlich in den Charts gewesen wäre. Und das ist Teil dieser schönen Geschichte: Eine eigentlich graue Maus, die von sich selbst gar nicht überzeugt ist, hat ein Lied geschrieben, das so viele getröstet hat und so lange danach immer noch tröstet. Das ist ein Beispiel für viele Biografien und für viele Dichterinnen und Dichter, die mir dadurch ganz nahe kommen, obwohl das von den Jahrhunderten her so weit weg ist.

DOMRADIO.DE: Sie setzen sich aber nicht nur in ihrem Buch mit dem Liederschatz auseinander, sondern darüber hinaus gibt es noch das Liederschatzprojekt, bei dem die alten Lieder wieder vermehrt in die Kirchen und Gemeinden gebracht werden sollen. Was für eine Entwicklung beobachten Sie denn, wenn es um die alten traditionellen Lieder geht?

Schneider: Da ist eine kleine Revolution losgetreten worden. Mehr als 36 Lieder wurden musikalisch neu aufgelegt, ohne dass man das jetzt verpopt hat. Es wurde einfach neu arrangiert, um alte Lieder wieder neu ins Gedächtnis zu bringen. Es ist also gelungen, dass viele Menschen diesen alten Liederschatz neu entdecken. Aber es ist wie mit vielen älteren Dingen, man muss einmal den Mut haben, sich damit wirklich auseinanderzusetzen. Aber wenn man dann mal eingetaucht ist und sich damit beschäftigt, dann macht es echt viel Spaß. Dann merkt man beim Singen, beim Lesen, beim darüber Nachdenken, dass man sehr inspiriert wird von diesen alten Liedern.

DOMRADIO.DE: Viele Menschen nutzen jetzt die Fastenzeit, um sich zu besinnen und sich vermehrt mit sich und dem Glauben auseinanderzusetzen. Wie kann uns denn dieser Liederschatz dabei im Alltag unterstützen?

Schneider: Es geht grundsätzlich darum, dass man sich ein Lied, einen Liedtext oder eine Liedzeile raussucht, die einen vielleicht über den Tag begleitet, die man mal wiederholt und darüber nachdenkt. Und dann kann man gucken, was das mit einem macht: Bringt mich das zur Ruhe, inspiriert mich das, setze ich mich dadurch mit mir, mit Gott und der Welt im wahrsten Sinne des Wortes auseinander? Das habe ich tatsächlich versucht und es hat mir in meinem Alltag geholfen.

Das Interview führte Julia Reck.


Quelle:
DR
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