Judith Schalansky über Vergangenes und Vergessenes

"Gott ist das, was fehlt"

In ihrem Buch 'Verzeichnis einiger Verluste' führt uns Judith Schalansky vor Augen, was wir zu vergessen oder verdrängen drohen. Im Interview spricht sie über ihre Kindheit ohne Gott und Engel und über das, was uns bei Verlusten tröstet.

Judith Schalansky / © Torsten Silz (dpa)
Judith Schalansky / © Torsten Silz ( dpa )

"Kränkend ist die Einsicht, sterblich zu sein, und verständlich das eitle Verlangen, der Vergänglichkeit zu trotzen und einer unbekannten Nachwelt Spuren zu hinterlassen, in Erinnerung, ja, unvergessen zu bleiben, wie die in den Granit der Grabsteine gemeißelten Absichtserklärung so unverdrossen behauptet". Das schreibt Judith Schalansky in dem Vorwort zu ihrem Buch 'Verzeichnis einiger Verluste'. Ein Buch, das von dem Begehren angetrieben wird, etwas "überleben zu lassen, Vergangenes zu vergegenwärtigen, Vergessenes zu beschwören, Verstummtes zu Wort kommen zu lassen und Versäumtes zu betrauern".

In zwölf Kapiteln begibt sich die Autorin auf die Spur großer weltgeschichtlicher und kleiner persönlicher Verluste. Da geht es dann um die untergegangene Weltreligion des Manichäismus, um den ausgestorbenen Kaspischen Tiger, um die im Meer versunkene Insel Tuanaki, die Liebeslieder des Sappho oder auch um den abgerissenen Palast der Republik. "Es ist doch überhaupt nicht gesagt, dass das worüber wir heute reden, bleibt. Das kann dann etwas ganz anderes sein", sagt Judith Schalansky im DOMRADIO.DE Interview. "Auch die Gegenwart ist nur zukünftige Geschichte und es kann sein, dass sie mit dem, was wir gerade erleben, wenig gemein hat".

Wie verwinden wir Verluste?

"Am Leben zu sein, bedeutet Verluste zu erfahren", schreibt Schalansky. Doch wie verwinden wir Verluste? Was kann uns trösten? "Kultur hat ihren Ursprung in dem Moment, wo unsere Urahnen beschlossen haben, irgendwelche Reste ihrer verstorbenen Mitmenschen nicht nur der Witterung zu überlassen, sondern Handlungen auszuführen, die im engeren Sinne keine Funktion haben, außer, dass sie eben Trost spenden sollen", sagt Schalansky. Die Autorin ist davon überzeugt, dass Kultur die Funktion habe, Verluste zu verwinden, Verluste erfahrbar zu machen. "Und ich zähle die Religion natürlich zur Kultur - als eine wichtige Kulturtechnik, aus der alles andere entstammt".

Kindheit ohne Gott und Engel

Mit dem Untergang der DDR hat die im Osten Deutschlands aufgewachsene Autorin selbst eine Verlusterfahrung gemacht. In der säkularen Welt ihrer Kindheit gab es keinen Gott, keine Wunder oder Engel. "Es war eine verstummte, komplett säkularisierte Welt", erzählt Schalansky. "Ich war wahnsinnig erschrocken, als ich zum ersten Mal ein Bild mit Engeln gesehen habe. Ich dachte, was ist das denn? Menschen mit Storchen- oder Schwanenflügel. Eine gottlose Kindheit hat auch etwas sehr Unbehaustes". Religionen seien in jeder noch so säkularen Gesellschaft – wenn auch auf verborgene Weise – gegenwärtig, ist die Autorin überzeugt. "Egal, ob wir jetzt Mitglied einer Kirche sind oder nicht, wir sind dabei, die ganze Zeit Rituale zu schaffen und in irgendwelchen zufälligen Abläufen sinnhafte Bezüge zu suchen". Es gebe eine große Sehnsucht nach dem Mythos und unsere gegenwärtige Gesellschaft, so weltlich sie auch tue, schaffe sich ständig neue Mythen.

Über Demut und Demütigung

Ein befreundeter Pfarrer habe ihr einmal eine Definition von Gott gegeben, die Judith Schalansky sehr schön gefunden habe. Gott, so habe der Pfarrer gesagt, Gott sei das, was fehle. "Das klingt wahnsinnig agnostisch", sagt sie, "so meine ich das aber gar nicht, denn das Abwesende ist doch auf eine Weise überhaupt das Anwesendste". Kein Wunder also, dass die Autorin ein Buch über Verluste geschrieben hat. "Es geht darum, erfahrbar zu machen, was uns verloren gegangen ist", sagt Schalansky, "und es ist ja nicht selten so, dass wir erst verstehen, was wir an einer Sache oder auch an einem Menschen gehabt haben, wenn die Sache oder der Mensch verschwunden ist. Und in dem Moment hilft es dann zu erzählen".

Verluste machen auch demütig, ist Schalansky überzeugt. "Die Berechnung aufgeben, etwas Größeres anerkennen als das, was ist. So was wie Gnade. So was wie Demut. Eine einzige Demütigung", schreibt sie in ihrem Buch. Das Wort Demut habe eine Verschwisterung mit dem Wort Demütigung, sagt die Autorin: "Das ist die Frage, ob man das eben als etwas Demütigendes erlebt, dass es etwas Größeres gibt, als man selbst, oder ob das nicht auch etwas Befreiendes hat. Und das Wort hat je etwas von einer Kippfigur, die hochinteressant ist. Denn der Mensch möchte ganz oben und alleine sein und möchte es eben doch nicht". Für wenige kostbare Augenblicke erschien ihr während der Arbeit an diesem Buch die Vorstellung tröstlich, dass das Vergehen unvermeidlich ist, schreibt Judith Schalansky in "Verzeichnis einiger Verluste", und sie sagt: "Unser unvermeidliches Vergehen hilft, den Moment auf eine Weise gegenwärtiger zu erleben und gleichzeitig, sich nicht so wichtig zu nehmen".


Quelle:
DR