Der Religion in der Gegenwartsliteratur auf der Spur

"Probebohrungen im Himmel"

Gibt es einen neuen religiösen Trend in der Gegenwartsliteratur? Zum Welttag des Buches an diesem Montag lohnt sich ein geschärfter Blick auf diese Frage. Der Literaturwissenschaftler Michael Braun erklärt, warum man diesen wagen sollte.

 (DR)

DOMRADIO.DE: Wenn man von einer Rückkehr der Religionen in der Literatur spricht, dann heißt das ja auch, dass Religionen in der Literatur in der Vergangenheit kein Thema waren. Wieso war das so?

Prof. Michael Braun (Professor für Neuere Deutsche Literatur in Köln): Die Religion war lange Zeit - bis ungefähr um das Jahr 1800 - ein Thema. Dann begannen die sogenannte Säkularisierung, die Politisierung und die Vergesellschaftung der Literatur. Seit etwa 20 Jahren spielt die Religion wieder eine quantitativ zunehmend große Rolle, aber auch von der Qualität des Religiösen in der Literatur her. Das ist der Anlass für viele Trends, Bewegungen und Projekte, die seit dem Jahr 2000 entstanden sind. Das hängt mit 9/11 und dem Anschlag auf das World-Trade-Center zusammen, also auch mit der Auseinandersetzung nicht nur mit der eigenen, sondern auch anderen Religionen, vor allem dem Islam.

DOMRADIO.DE: Aber nach dem zweiten Weltkrieg gab es durchaus auch katholische Autoren, die sehr populär waren: Reinhold Schneider oder Werner Bergengrün. Was war das im Unterschied zu heute für eine Literatur?

Braun: Diese Autoren werden heute nicht mehr gelesen. Teilweise zu Recht, manchmal zu Unrecht. Das waren Reinhold Schneider, Werner Bergengrün oder Stefan Andres, religiös hochmusikalische und auch im traditionellen Sinn katholische Autoren, die aber trotzdem kirchenkritisch und unorthodox geschrieben haben, aber in konventionellen Formen. Das Neue an religiös musikalischer Literatur der Gegenwart sind die neuen Formen, die neuen Narrative und die neuen Erzählungen. Das war nach dem Krieg bei den Seelenheil-Romanen oder bei den Novellen der erwähnten Autoren nicht der Fall.

DOMRADIO.DE: Sie waren vielleicht zu sehr ihrer Zeit verhaftet und haben nicht den Überschlag ins Allgegenwärtige geschafft, wenn ich Sie richtig verstehe?

Braun: Ja, dieser Purzelbaum von der Welt ins Metaphysische erfordert sehr viel Mut. Diesen postmodernen Mut hat man nach dem Krieg noch nicht gehabt.

DOMRADIO.DE: Das ist jetzt offensichtlich anders. Se haben jetzt gesagt, dass die Terroranschläge vom 11. September 2001 vielleicht eine Marke dargestellt haben. Wie macht sich die Rückkehr des Religiösen in der Literatur bemerkbar?

Braun: Zum Beispiel in den "Probebohrungen im Himmel". Das ist sehr schönes Bild dafür, dass die metaphysischen Antennen nicht mehr nur ins Leere gehen. Stattdessen sind sie nach oben gerichtet und leuchten etwas aus, wo vielleicht keine Götter und Engel mehr sind, aber doch etwas, was unsere Erfahrungen und unsere Wirklichkeit übersteigt. Die Autoren sind ja Suchende, die vielleicht nicht mehr das finden, was man in der Kirche findet, aber die sich auf den Weg machen zu dem, was man in der empirischen Wirklichkeit nicht immer so finden kann.

DOMRADIO.DE: Würden Sie sagen, der Begriff des Religiösen ist heute weiter gefasst als es vielleicht in der Nachkriegszeit der Fall war?

Braun: Es ist auf jeden Fall ein komplexerer, stärker pluralistischer und auch zirkulärer Begriff. Bei "Probebohrungen" kann man ja an die Windräder denken, die sich auch in den Himmel recken. Sie reißen nicht unbedingt den Himmel auf, aber bringen etwas in Bewegung. Sie drücken eine Bewegung von unten nach oben und von oben nach unten aus.

DOMRADIO.DE: Diese Suche nach Sinn im Leben, nach Wurzeln, nach Religiösem, haben mit den Anschlägen vom 11. September, also mit Erschütterungen zu tun?

Braun: Ja, es hat in den Autoren vieles aufgewühlt und hervorgeholt, was lange Zeit verschüttet war. Das können sie in der Anthologie "Tohuwabohu" von Arnold Stadler sehen. Es ist ein biblisches Wort für das Chaos in der Welt, das durch die Schöpfung geordnet wurde. Für Arnold Stadler besteht dieses Chaos in der Vielfalt der Weltreligionen. Die Schriftsteller sind oft dafür da, um ein wenig Ordnung und Sinn in dieses Chaos zu bringen.

Das Interview führte Hilde Regeniter.


Quelle:
DR