Luther und die Reformation beeinflussen Lesekultur bis heute

Lesen als religiöse Tätigkeit

Vor 500 Jahren nahm der Buchmarkt seinen enormen Aufschwung - auch dank der Reformation. Heute lesen viele lieber bereitgestellte Häppchen im Web. Doch noch immer steckt Luther in der deutschen Lesekultur.

Frankfurter Buchmesse / © Heike Lyding (epd)
Frankfurter Buchmesse / © Heike Lyding ( epd )

Allen Krisen des Buches zum Trotz: Deutschland hat auch 2017 noch den zweitgrößten Buchmarkt der Welt, und im 500. Jahr des Reformationsgedenken gibt es hier noch immer eine Lesekultur, die ihresgleichen sucht. Zwölf Bücher erwarb jeder Deutsche im Schnitt im vergangenen Jahr laut Börsenverein des Deutschen Buchhandels. Die Frankfurter Buchmesse mit ihren vielen Lesungen, Preisen und Dichterpodien wird ab Dienstag wieder unmittelbar von dieser Lesebegeisterung zeugen. Dabei ist es Theologen und Kulturforschern zufolge kein Zufall, dass das Leseland zugleich dasjenige der Reformation ist.

Lesen gehört zum Glaubensleben

Als eine der "großen kulturellen Errungenschaften des Protestantismus" bezeichnet es der Kulturbeauftragte der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Johann Hinrich Claussen, das "Lesen fast zu einer religiösen Tätigkeit" gemacht zu haben. Aus lutherischer Sicht gehört dies zum Glaubensleben dazu wie der Kirchengang: Dass ein Mensch sich selber bildet, indem er sich zurückzieht, ein Buch liest, den Text auf sich wirken lässt und ihn laut Claussen "in sich hineinbildet". Dieses Bildungsverständnis hat die Deutschen seiner Meinung nach stark und letztlich konfessionsübergreifend geprägt.

Martin Luther (1483-1546) hatte die Alphabethisierung vorangetrieben, um den Gläubigen das Lesen der Bibel zu ermöglichen. Durch die Lektüre sollten sie sich - unabhängig von kirchlichen Autoritäten - selbst ein Bild vom gnädigen Gott machen. Das war das vornehmste Ziel. Die Bibel sei alles, was ein frommer Christ brauche, schrieb der Wittenberger Theologieprofessor. Deshalb bedürfe die Seele "auch keines anderen Dinges mehr, sondern sie hat in dem Wort Genüge, Speise, Freude, Frieden, Licht, Kunst, Gerechtigkeit, Wahrheit, Weisheit, Freiheit und alles Gut überschwänglich."

Qualität statt Quantität

Der Reformator, der 1517 seine 95 Thesen zur Erneuerung der Kirche veröffentlicht und dadurch unbeabsichtigt deren Spaltung ausgelöst hatte, las selber begeistert im "Buch der Bücher". Er las immer wieder, hatte geradezu ekstatische Leseerlebnisse. Ihm ging es vor allem darum, nicht möglichst viel, sondern das Richtige zu lesen. Das aber mit großer Intensität.

Eine Bücherflut beklagte er schon damals, als der Buchdruck - nicht zuletzt wegen der aufrüttelnden theologischen Dispute der Zeit - einen ungeheueren Aufschwung nahm. In seiner Schrift "An den christlichen Adel deutscher Nation" appellierte Luther 1520 an die Obrigkeit, die Schulbildung für das Volk voranzubringen, aber auch auf die Qualität die Bücher achten: "Die Bücher müsste man auch vermindern und erlesen die besten; denn viele Bücher machen nicht gelehrt, viel lesen auch nicht, sondern gut Ding und oft lesen."

Appell für "Kanon guter Bücher"

Für die religiöse Praxis der Gemeinde ergab sich aus Luther enormer Wertschätzung des Lesens die "wiederholte, stetig vertiefende Bibellektüre", schlussfolgert Christine Eichel in ihrem Buch "Deutschland, Lutherland" (2015). So entwickelte sich im deutschen Protestantismus eine lebendige Lese- und Debattenkultur.

Zunächst erschienen Bibeln, Gebetbücher und Erbauungsliteratur, die in Schulen und Hauskreisen gelesen wurden. Im 18. Jahrhundert rief dann die Entstehung des weltlichen Romans zugleich die Kritik auf den Plan: Theologen, für die Lesen und Glauben eng verbunden war, betrachteten die neue Unterhaltungsliteratur und die mit ihr verbundene "Lesesucht" mit Sorge. Gut lutherisch plädierte der Dichter Karl Phillip Moritz (1756-1793) für einen "Kanon guter Bücher" an und dafür, diese immer wieder zu lesen.

Wie sehr diese Haltung bis heute nachwirkt, zeigt ein Aufruf des Schweizer Erfolgsautors Rolf Dobelli, der sich selbst als Atheist bezeichnet: "Weniger lesen, aber aus Prinzip doppelt" titelte im August 2016 die "Neue Züricher Zeitung"; angesichts moderner Tendenzen zur Zerstreuung konstatiert darin Dobelli: "Wir lesen falsch. Wir lesen zu wenig selektiv und zu wenig gründlich." Eine bedächtige Lesart maximiere den Wirkungsgrad: Mehr Inhalt bleibe hänge, das Verständnis gewinne.

Digitalisierung hinterlässt Spuren

Was dem Einzelnen als Tipp angesichts der Informations- und Bücherflut helfen mag, wird der Buchhandel nicht gerne hören. Heute hat die Branche, die ihren Aufschwung der Reformation vor 500 Jahren verdankt, tatsächlich zu kämpfen. In fünf Jahren (bis 2016) brach laut "Frankfurter Allgemeine Zeitung" der Umsatz gedruckter Bücher um 13 Prozent ein, E-Books konnten den Verlust nicht auffangen.

Die heutige von Digitalisierung, Smartphone und E-Mails bestimmte Kultur sei dem Lesen abträglich, sagt auch Claussen. Lesen bedeute, sich für eine längere Zeit zurückzuziehen aus dem "öffentlichen Dauergequassel", das werde heute immer schwieriger, weil man dauernd erreichbar sein müsse. Der Theologe plädiert dafür, sich die Auszeit dennoch zu nehmen, gut lutherisch weniger und intensiver zu lesen, und dabei vor allem den eigenen "Lesespuren" zu folgen statt algorithmisch vorgeschlagener Titel und Bestseller-Empfehlungen.

Dass das Lesen dem Seelenheil dient, sieht auch Claussen so. "Der Glaube kommt durch das Wort." Und das kann man nicht nur hören, sondern auch lesen. Lesen heiße bei Luther immer auch deuten, es auf das eigene Leben beziehen, sagt Claussen. Und das sei die Grundbewegung des Glaubens, eine Botschaft nicht nur zu schlucken, sondern sie sich "kreativ anzueignen".

Renate Kortheuer-Schüring

 

Quelle:
epd