Dirigent Markus Stenz im domradio.de-Interview

Neugier, Trump und Haydn

Er hat das Musikleben mehr als zehn Jahre lang in Köln geprägt: Markus Stenz war von 2003 bis 2014 Generalmusikdirektor und Gürzenich-Kapellmeister der Stadt. Im domradio.de-Interview spricht er über sein Leben als "Musik-Reisender".

Markus Stenz / © N.N. (Molina Visuals)

domradio.de: Wie fühlen Sie sich am Pult des Gürzenich-Orchesters, mehr als zwei Jahre nach Ihrem Abschied?

Markus Stenz (Ehemaliger Gürzenich-Kapellmeister, ehemaliger Generalmusikdirektor der Stadt Köln und Dirigent): Ich fühle mich glänzend. Es ist ein so schönes Musizieren mit dem Orchester. Das ist das, was ich an dem Orchester so liebe: Die Musizierfreude, die Virtuosität, das was sie können. Aber auch den Raum und die Philharmonie, mit der ich so viele Erinnerungen verbinde, neu zu beleben, ist ein sehr schönes Gefühl.

domradio.de: Wie haben Sie die letzten drei Jahre als Reisender durch die internationale Musikwelt geprägt?

Stenz: Ich habe das Leben aufgegriffen, das ich vor Köln kannte. Jedes Mal, wenn ich jetzt dirigiere, dirigiere ich nicht in Köln, sondern bin unterwegs. Vor allem international habe ich mehr gearbeitet. Ich habe in Seoul eine kleine Position als "conductor in residence" angenommen. Ein paar Wochen im Jahr bin ich außerdem erster Gastdirigent beim Baltimore Symphony Orchestra. Ich mache zunehmend mehr in Amerika, das genieße ich sehr. Ich gehe dahin, wo die Musik ist, und dann haben wir immer eine gute Zeit.

domradio.de: Als wir vor zehn Jahren zum ersten Mal hier bei domradio.de im Studio saßen, haben Sie über sich als Dirigent gesagt: "Ich bin erst am Anfang und brauche noch viele Jahre, um das Gefühl zu bekommen, weiter zu kommen." Wie weit sind sie jetzt gekommen?

Stenz: Ich brauche noch viele Jahre, um persönlich weiterzukommen. Ich merke, dass die Neugier zum Glück nicht aufhört. Die Neugier ist der grundsätzliche Instinkt für mich, und ich glaube, auch bei den meisten anderen Menschen ist die Neugier eine spannende Geschichte. Die Neugier treibt mich weiter an. Was es bei Stücken zu entdecken gibt, die ich mehrere Jahre nicht dirigiert habe, macht mich neugierig, denn sie haben sich weiterentwickelt. Dabei hilft nicht nur die Lebenserfahrung, sondern auch die Möglichkeit, sich anders in den Komponisten hineinzuversetzen. Es gibt Türen, die sich öffnen, von denen man nicht wusste, dass es sie gibt.

domradio.de: Sie haben gesagt, dass Sie in den USA einen neuen Schwerpunkt haben und dort mehr Konzerte geben. Wie sieht es dort aus, spürt man den amerikanischen Präsidenten Trump, der sagt: "America First!"?

Stenz: Man spürt ihn bei den Menschen, mit denen ich zu tun habe. Man muss sich das so vorstellen, dass sich die Kulturwelt fast zu 100 Prozent schämt, dass es so schief gegangen ist bei der Präsidentschaftswahl. Dort gibt es keine Befürworter Trumps. Aber er ist präsent, denn man redet darüber. Ein Beispiel dazu gab es bei der Amtseinführung: Trump musste Klinken putzen, um jemanden in der Künstlerwelt zu finden, der oder die bei der Amtseinführung für ihn spielen oder singen wollte. Schließlich kommt er mit einem Chor, bei dem daraufhin fast 40 Leute ausgetreten sind.

domradio.de: Trump ist nicht spontan gewählt worden, sondern eine Reaktion von einer 'weißen' Bevölkerung, die sich zurückgestoßen oder vernachlässigt fühlt. Auch rassistische Tendenzen in der amerikanischen Gesellschaft werden festgestellt. Haben Sie diese Spannungen in den vergangenen Jahren miterlebt?

Stenz: Ich erinnere mich an eine bestimmte Situation, die ich miterlebt habe. Diese war allerdings vor dem Wahlkampf Trumps. Das war in St. Louis, in der Nähe von Ferguson, wo der dunkelhäutige Mike Brown umgekommen ist. Dabei sind Rassenunruhen entstanden. In St. Louis war ich im Konzertsaal bei einer Aufführung, und als ich vor dem zweiten Teil zu Beginn des Werkes den Taktstock heben wollte, hörte ich hinter meinem Rücken aus dem Publikum eine sonore, männliche Stimme.

Diese Person hat einen Gospelgesang angestimmt: "Justice for Mike Brown" (Gerechtigkeit für Mike Brown). Ich drehte mich um, denn ich dachte, er würde weiter singen, und ich wollte wissen, wer das war. In dem Moment kam eine andere Stimme dazu und es standen mehr Leute auf, die in diesen Gospelgesang mit einstimmten. Das waren offensichtlich Aktivisten, die sich den Konzertsaal als Plattform für ihre Botschaft gewählt hatten.

Diese Aktivisten haben das fantastisch gemacht. Das waren zur Hälfte dunkelhäutige und zur anderen Hälfte hellhäutige Menschen, die die Gesellschaft zusammenhalten wollen. Sie haben Poster ausgerollt, auf denen ebenfalls "Justice for Mike Brown" geschrieben war. Nach zwei Minuten sind sie singend ins Foyer verschwunden. Sie hatten ihr Statement für die 'weiße' Gesellschaft gemacht. Denen gebührt mein Respekt, sie haben das fantastisch vorgetragen und nicht die Musik gestört, sondern den Moment der Stille genutzt, bevor das Konzert weiterging. 

domradio.de: Wie waren die Reaktionen des Publikums?

Stenz: Im Publikum gab es erst Verblüffung. Der Habitus war ein friedlicher Protest. Es gab viel spontanen Beifall und Unterstützung für die Aktivisten. Die Gegenreaktion waren Buh-Rufe, die sich hochgeschaukelt haben. Letztlich war das aber ein gut vorgetragener politischer Moment im Konzertsaal.

domradio.de: Das hat sehr deutlich vor Augen geführt, dass diese Gesellschaft in den USA eine gespaltene Gesellschaft ist. 

Stenz: Sie sehnt sich allerdings auch nach einem Zusammenschluss. Das Ziel muss sein, dass die Gesellschaft zusammenkommt und die Diskussion um den Rassismus überflüssig wird. Wenn das über friedliche Proteste geschehen könnte, ist das ein wünschenswertes Ideal.

domradio.de: Noch ist die Konzertgesellschaft in den USA hellhäutig?  

Stenz: Ja, überwiegend. Aus persönlichen Erfahrungen ist in den Orchestern und Chören, mit denen ich arbeite, ein sehr geringer Prozentsatz dunkelhäutig. 

domradio.de: In den USA werden die meisten Konzertsäle und Programme privat betrieben, was um einiges teurer ist. Eine reiche Konzert-, Theater-, und Opernlandschaft gibt es in den USA nicht.

Stenz: Für so ein riesiges Land wie die USA gibt es vergleichsweise wenig von dieser Kultur. Die deutsche Kulturlandschaft ist wie ein Leuchtturm für die meisten Länder. Da bin ich stolz drauf, und das muss man erhalten. Das ist ein Schatz, was nach wie vor in Deutschland möglich und geschätzt wird, wenn man das mit dem Ausland vergleicht. 

domradio.de: Ist das auch erschwinglicher, so dass eine größere Mischung daran teilhaben kann?

Stenz: Ja, aber auch die Hürden für den Konzertbesuch in Amerika liegen nicht hoch. Das ist eine speziellere Nische. In Deutschland ist das eher die Mitte der Gesellschaft. 

domradio.de: Jetzt sind Sie in Köln und dirigieren das achte Symphonie-Konzert des Gürzenich-Orchesters. Joseph Haydn, William Walton und Jacques Ibert stehen auf dem Programm. Warum haben Sie diese Kombination gewählt?

Stenz: Das Programm wird richtig Spaß machen. Haydn ist immer ein Steckenpferd von mir gewesen. Ich liebe das Überraschende in seinen Symphonien. Die Symphonie, die wir ausgewählt haben, Lamentation, passt sehr gut in die Passionszeit, weil sie aus dem österreichischen Passions-Liedgut Zitate beinhaltet. Diese umspielt Haydn sehr fantasievoll und setzt sie poetisch ein, was sehr toll klingt. Ein echter Haydn mit viel Überraschtem, viel Drive, viel Reflexion, das Laune machen sollte.

Das Gürzenich-Orchester hat eine fantastische Soloflötistin: Alja Velkaverh. Wir waren immer schon während meiner Zeit in Köln verabredet, dass wir ein Solistenkonzert machen, und jetzt haben wir uns bei meiner Rückkehr zum Orchester diesen Wunsch erfüllt. Jacques Ibert hat Mitte der 1930er Jahre ein schwungvolles, von Jazz inspiriertes Stück geschrieben. Es ist ein putzmunteres, raffiniertes Flötenkonzert mit Jazz-Anklängen, das Alja Velkaverh phänomenal spielt.

Im zweiten Teil gibt es aus den 1930er Jahren eine der großen Symphonien, die in England geschrieben worden sind. William Walton ist ein sehr namhafter englischer Komponist, der ungefähr in der Mitte seines Lebens angefangen hat, komplett sinnlich zu komponieren, auch gegen den Geist der sich immer weiter entwickelnden Neuen Musik von damals. Man merkt das südländische, sonnige, sinnliche in seiner Musik. Die erste Symphonie zeigt zwei Gesichter: Die ersten drei Sätze sind ein Liebesunglück, und der vierte Satz ist der volle Optimismus, weil alles wieder gut ist.

domradio.de: Ist das eine Reihe beim Gürzenich-Orchester, englische Komponisten zum Klingen zu bringen?

Stenz: Ja, das Gürzenich-Orchester hat seinen Schwerpunkt auf englischer Musik. Die erste Symphonie von Walton gehört unbedingt dazu. Das ist ein großes symphonisches Statement, es gibt kein namhaftes Orchester, das die Symphonie noch nicht auf dem Programm hatte. Und jetzt spielen wir es in Köln!

Das Interview führte Birgitt Schippers.


Quelle:
DR