Das Weihnachts-Lieblingslied der Deutschen und seine Parodien

Schrille Nacht

Im Freiburger Zentrum für Populäre Musik füllen Tonträger und Liederbücher die Archive: von Roberto Blanco bis zu den Rolling Stones. Hinzu kommen mehr als 50 Umdichtungen des Weihnachtsklassikers "Stille Nacht."

Autor/in:
Volker Hasenauer
Singender Chor / © Harald Oppitz (KNA)
Singender Chor / © Harald Oppitz ( KNA )

Die Idylle ist kaum zu überbieten. Das hochheilige Paar wacht fürsorglich über dem blond gelockten, sanft schlafenden Kind. Himmlische Engel bringen die alles erlösende Kunde: Christus rettet den Menschen, ja die gesamte Welt aus aller Not: "Stille Nacht" wird auch beim Weihnachtsfest 2016 weltweit in Kirchen und Weihnachtskonzerten emotionaler Höhepunkt sein.

"Aber gerade die im Lied beschworene Idylle hat immer wieder dazu herausgefordert, durch Parodien und Umdichtungen den Finger in die Wunde zu legen und zu fragen, wie es um die Welt an Weihnachten wirklich steht", sagt Michael Fischer. Er leitet das Freiburger "Zentrum für Populäre Kultur und Musik" und hat mehr als 50 Versionen aus der knapp 200-jährigen Stille-Nacht-Geschichte zusammengetragen.

Erstaufführung an Heiligabend 1818

An Heiligabend 1818 führten der österreichische Pfarrer Joseph Mohr und der Organist Franz Xaver Gruber ihr Weihnachtslied erstmals auf. In einer kleinen Salzburger Kirche. Von dort nahm der Siegeszug des in mehr als 200 Sprachen übersetzten Klassikers seinen Lauf - über den Umweg einer ganz und gar weltlichen Sängergruppe. Um das "Tyroler Lied" eingängiger zu machen, ließen die "Geschwister Strasser" kurzerhand zwei der sechs von Mohr gedichteten Strophen weg. Sie hielten sie für zu fromm und theologisch für ihr Volkslieder gewohntes Publikum.

Die von den Freiburger Musikwissenschaftlern dokumentierten Umdichtungen wiederum führen trotz vielfach beißender Sozial-, Kirchen- und Religionskritik häufig zum Kern der weihnachtlichen Erzählung zurück: zur Geburt eines vom Machthaber Herodes verfolgten Flüchtlingskindes in ärmsten Verhältnissen.

So wird in den Umdichtungen der Arbeiterbewegung im späten 19. Jahrhundert oder der Weimarer Republik aus dem holden Knaben eine vor Hunger darbende Kinderschar; und aus der heiligen, eine "düstre, schaurige Nacht". Erlösendes Licht und volle Gabentische gibt es in diesen Versionen nur in den Palästen der Reichen, während die Arbeitereltern aus Sorge um ihre hungernden Kinder schlaflose Nächte verbringen.

Liedmissbrauch für ideologische Zwecke

Fundstücke aus der Zeit der beiden Weltkriege belegen die Versuche, das Lied für ideologische Zwecke zu missbrauchen. "Stille Nacht, heilige Nacht - Deutschland hat mobil gemacht! - Frankreich liegt in großer Not - Russland schlagen wir mausetot - England kommt noch dran", lautet etwa die erste Strophe einer Umdichtung, die sich im 1916 erschienen Liederbuch "Neueste Kriegslieder" findet. Eine NS-Fassung erhebt Hitler an der Stelle Christi zum Retter der Welt, der in der stillen und heiligen Nacht Deutschland zu "Größe, zu Ruhm und zum Glück" führen möge.

"Allerdings ist es eher unwahrscheinlich, dass solche kriegsverherrlichenden Fassungen tatsächlich gesungen wurden", betont Fischer. Aber sie wurden in populären Liederbüchern und Heften gedruckt.

Im Nachkriegsdeutschland blieb es dann zunächst ruhig. Erst ab den 1960er Jahren haben die Musikexperten wieder einige Belege gefunden.

"Schrille Nacht, eilige Nacht"

Von einem Berliner Apo-Plakat von 1968 bis zur Kapitalismuskritik der Ersten Allgemeinen Verunsicherung. Selbst das Frauengesangbuch "Lesbische Parodien zum Selbersingen und Weiterdichten" kommt 1991 nicht an der Stillen Nacht vorbei. Und Gerhard Schöne dichtet im gleichen Jahr: "Schrille Nacht, eilige Nacht - Goldnes Kalb, o wie lacht - Gier aus deinem lockenden Schlund - ich stoß mir die Ellbogen wund - und kein Retter ist da!"

Für die Kulturwissenschaftler zeigen die Stille-Nacht-Umdichtungen beispielhaft, wie sich gesellschaftlich-politische Entwicklungen auch in der Populärmusik spiegeln. Und in den Hunderten von Regalmetern des universitären Forschungszentrums, das aus dem Deutschen Volksliedarchiv hervorgegangen ist, warten viele ungehobene Schätze auf ihre Wiederentdeckung, von Liedflugschriften seit dem 16. Jahrhundert bis zur Single-LP-Sammlung mit Schlagern der 1950er bis 90er-Jahre. Eine Idee für das nächste Weihnachtsprojekt hat Fischer auch: "Wir sollten uns mal die Cover der Weihnachtsschallplatten anschauen, da könnte man viel über Familienbild, Geschlechterrollen und Bedeutung von Weihnachten erfahren."


Quelle:
KNA