Theologe Lütz zum ARD-Film "Terror"

"Man muss individuell entscheiden"

Darf man ein Flugzeug, das von Terroristen entführt wurde, abschießen, um eine noch größere Katastrophe zu verhindern? Das ethische Dilemma vom ARD-Film "Terror" findet sich auch in anderen Lebensbereichen, sagt Theologe Lütz.

ARD-Gerichtsdrama "Terror - Ihr Urteil" / © Julia Terjung (dpa)
ARD-Gerichtsdrama "Terror - Ihr Urteil" / © Julia Terjung ( dpa )

domradio.de: Die Zuschauer haben ja gestern für einen Freispruch des Piloten gestimmt. Wie beurteilen sie diese Wahl?

Manfred Lütz (Theologe und Psychiater): Ich fand den Film und auch die Fragestellung sehr interessant. Es gibt sicherlich die Situation, dass man weder die eine noch die andere Meinung teilen kann. Dass dieser Mensch versucht hat, seinem Gewissen zu folgen und dafür in Kauf genommen hat, dass er 164 Leute getötet - das hat im Volk die Reaktion ausgelöst: Es ist doch toll, dass er 70.000 Leute gerettet hat.

Aber es ist interessant, dass in den Theatern, in denen das Stück aufgeführt worden ist, der Prozentsatz für die Zustimmung geringer war - also nicht um die 80 sondern um die 60 Prozent lag. Wenn Menschen sich etwas intensiver mit dem Thema beschäftigen, können sie vielleicht noch etwas stärker sehen, was diese ganze Problematik beinhaltet.

Es ist eine Grundsatzfrage, die sich in letzter Zeit auch bei anderen moralischen Entscheidungen gezeigt hat. Das hat im ersten Moment vielleicht nichts miteinander zu tun, aber dem Inhalt nach schon: Das eine ist der ärztlich assistierte Suizid und das andere ist bei uns Katholiken die Frage der Wiederzulassung der wiederverheirateten Geschiedenen zur Kommunion. Es gibt Situationen, in  denen man keine generelle Regelung als Rezeptbuch für eine Situation aufstellen kann und darf.

Beim ärztlich assistierten Suizid hätte eine generelle Regelung die Bedeutung, dass alte und kranke Menschen in Gefahr sind; dass sie gedrängt werden, sich töten zu lassen. Dass die individuelle Situation in einem Sterbefall so sein kann, dass zwischen Arzt und Patient eine Situation eintritt, die man nicht durch eine generelle Regelung fassen kann, haben auch alle gesagt. In diesem Fall kam es darauf an, dass man die individuelle Situation dieses Piloten sehen muss. Der Philosoph Robert Spaemann hat gesagt: In einer solchen Situation darf die Rechtsordnung nicht erlauben, dass man Menschen tötet; dass man Leben gegen Leben abwägt.

domradio.de: Sie haben gesagt, dass im Theater die Zahlen anders ausfielen als gestern. Was sagt denn diese Entscheidung über die Zuschauer aus?

Lütz: Möglicherweise wirkt das Fernsehen etwas suggestiver. Man ist beim Fernsehen vielleicht weniger in der Lage, sich kritisch und in Ruhe mit so einer Frage noch einmal auseinander zu setzen als es im Theater der Fall ist. Möglicherweise gab es auch andere Effekte: Der Pilot sah gut aus, wirkte sympathisch und so weiter. Das könnte das Voting beeinflussen.

domradio.de: Ja oder Nein ist schwer zu sagen – es muss individuell verhandelt werden, sagen Sie. Auf der anderen Seite sind da Menschen, die für Gesetze verantwortlich sind. Wie kommen wir zu einer Entscheidung?

Lütz: Das eine ist die Rechtsordnung. Die Rechtsordnung ist wichtig und muss auch aufrecht erhalten werden. Das andere ist die Moral, die uns im Gewissen trifft und die etwas Individuelles ist. Ich muss individuell entscheiden. Ich kann mir nicht von der Rechtsordnung meine Gewissensentscheidung abnehmen lassen. Wenn das so wäre, dann bräuchte ich ja keine Gewissensentscheidung mehr zu fällen. Das ganze Leben wäre dann im Grunde das Abspielen dessen, was in einem Rezeptbuch steht.

Und so ist es eben nicht. Viele Leute erhoffen sich das in dieser unübersichtlichen Welt - durch Ratgeber oder Gesetze. Aber das nimmt uns nicht die individuelle Verantwortung in der einmaligen Situation ab, die eintritt, wenn so etwas passieren würde. Das hat – glaube ich – Ferdinand von Schirach versucht, zu vermitteln. Das ist etwas, was uns nachdenken lassen muss. Und nochmal: Das betrifft auch andere Fälle.

Auch in der Diskussion um die Wiederzulassung der wiederverheirateten Geschiedenen zur Kommunion geht es darum. Papst Franziskus hat gesagt, dass es keine generelle Regelung geben darf, dass alle zugelassen werden, und es darf keine generelle Regelung geben, dass es allen untersagt ist. Sondern es muss der Beichtvater in der Gewissensdiskussion mit dem Beichtkind diskutieren, wie in dieser besonderen Situation die Entscheidung sein kann.

Das Gespräch führte Daniel Hauser.


Dr. Manfred Lütz / © Claudia Zeisel (KNA)
Dr. Manfred Lütz / © Claudia Zeisel ( KNA )
Quelle:
DR