Domkapitular Sauerborn verrät seinen Lieblingsort im Kölner Dom

"Die Heilige Schrift verkosten wie guten Wein"

Jeder, der im oder am Dom arbeitet, betrachtet Kölns Kathedrale aus seiner ganz persönlichen Perspektive. Und er entwickelt oft eine besondere Vorliebe für einen bestimmten Platz. Für Josef Sauerborn ist es das Bibelfenster in der Achskapelle.

Autor/in:
Beatrice Tomasetti
Künstlerseelsorger Josef Sauerborn in der Achskapelle des Domes, wo sich das Bibelfenster befindet. / © Beatrice Tomasetti (DR)
Künstlerseelsorger Josef Sauerborn in der Achskapelle des Domes, wo sich das Bibelfenster befindet. / © Beatrice Tomasetti ( DR )

Die "Entwöhnung des Isaaks" fristet – sowohl theologisch als auch ikonografisch betrachtet – ein Schattendasein. So schnell hat diese Mini-Szene, die im ersten Buch Mose eher am Rande – nämlich mit nur einem einzigen Satz – Erwähnung findet, niemand auf dem Schirm. Vielleicht nur ein absoluter Insider. Oder nicht einmal der. Wer aber genauer hinsieht, mittelalterliche Bildprogramme lesen gelernt hat – von denen der Kölner Dom im Übrigen voll ist – und den Dingen gerne auf den Grund geht, entdeckt ein solch kurioses Detail. Das schon mal gerne für Staunen sorgt und es immerhin Origines, dem christlichen Gelehrten aus dem 3. Jahrhundert, wert ist, in seine zahlreichen Bibelkommentare und exegetischen Arbeiten aufgenommen zu werden. In seinem umfangreichen Werk sucht der Kirchenschriftsteller nach befriedigenden Antworten auf Grundfragen des Glaubens und erschließt die Erzählungen des Alten Testaments auf das Christusgeschehen im Neuen Testament hin. Und da gehört dieser „Abstillvorgang“ – als solches würde man dieses Nischenthema wohl heute eher bezeichnen – eben mit dazu.

Künstlerseelsorger Prälat Josef Sauerborn, der dem Kölner Metropolitankapitel seit 2004 angehört, von diesem Zeitpunkt an also regelmäßig Messen im Dom zelebriert, zählt ebenfalls zu den Kennern solcher originellen Randepisoden des Alten Testaments. Und für diese spezielle musste er gar nicht groß auf Entdeckungsreise gehen. "Manches kommt einem von ganz alleine entgegen", sagt er. "Jedes Mal, wenn ich die Frühmesse im Kölner Dom feiere, geht der erste Sonnenstrahl des Tages durch das sogenannte 'Ältere Bibelfenster' in der Achskapelle. Es ist also das Morgenlicht, das die Heilsgeschichte Gottes, die hier mit wenigen Szenen aus dem Alten und dem Neuen Testament in einer Art Dialogsituation dargestellt ist und bei Tagesanbruch ganz von selbst aufleuchtet, in den Dom trägt." Für ihn immer wieder ein ganz berührender Moment, gesteht der 72-Jährige.

Das Bibelfenster als Glaubenszeugnis

Dass dieses Bibelfenster, von dem im Krieg nur zwei Scheiben zu Bruch gegangen sind, am östlichsten Punkt der Kathedrale von 1260 an seinen stillen Dienst tue, wie Sauerborn das nennt, beeindrucke ihn, seit er sich mit dessen Bildprogramm bewusst beschäftigt habe. "Dabei hatte ich immer den Eindruck, dieses Fenster will gar nicht aus der Nähe verstanden werden. Es kalkuliert eher den Effekt eines Zusammenspiels von Licht und Bild auf Distanz – doch ohne den Hauch einer Belehrung. Die zentrale Aussage unseres Glaubens, wie sie hier ganz wunderbar von den Glasmalern des Mittelalters zur Anschauung gebracht wird, steht am Beginn eines jeden Tages und ist wie ein Gruß des Himmels; ein Lichtkegel, dessen Blendwerk einen beim Verlassen des Altarraums kaum absichtslos trifft."

Dieses Fenster sei ständige Verkündigung und gleichzeitig ein Glaubenszeugnis der Menschen des Mittelalters, für die die typologische Schriftauslegung die prägende gewesen sei. Trotzdem habe hinter solchem bildhaften Denken nicht ansatzweise ein katechetischer Gedanke gestanden habe, zeigt sich der Domkapitular überzeugt. Vielmehr werde das biblische Heilsgeschehen in Korrespondenzen und Analogien erzählt. So stehe beispielsweise Mariä Verkündigung aus dem Neuen Testament Eliesers Brautwerbung um Rebecca aus dem Alten Testament gegenüber, die Szene der Taufe Jesu im Jordan der der Arche Noah, die Niederkunft Mariens dem Motiv des Dornbuschs, der nicht verbrennt, oder das Opfer des Isaaks dem Kreuzestod Jesu.

Sperriges aus dem Alten Testament über Bilder erschließen

Doch besonders angetan hat es Sauerborn die "Entwöhnung des Isaak" – wie gesagt, nicht unbedingt ein "Eyecatcher", der von daher als eigenständiger Topos in der Kunstgeschichte auch kaum Beachtung findet und hier – selbst das ungewohnt – eine Allianz mit dem "Letzten Abendmahl" eingeht. "Ich finde die Darstellung überraschend, aber hochinteressant", erklärt er und räumt ein, dass die Szene auch ihm lange unbekannt gewesen sei, bis er sich damit auseinandergesetzt und Freude daran gefunden habe. "Selbst heute – nach über 40 Jahren als Priester – frage ich mich mitunter noch, zu welchen Neuentdeckungen uns solche Bilder verleiten können, was wir bei ihrer Betrachtung assoziativ wahrnehmen." Er für sich macht bei diesem Bildpaar als inhaltliches Bindeglied den Eintritt in eine neue Lebensphase, den Beginn von etwas Neuem, aus.

Er erinnere sich noch ganz genau an seine ersten Kaplansjahre im Bonner Münster, erzählt der Künstlerseelsorger, der als ausgewiesener Kenner in Sachen Kunst gelten kann. "Schon damals in den 1970er Jahren, als alles Bildhafte verpönt war und jede Ausdeutung einer kritischen Exegese standhalten musste, habe ich mich gefragt, wie erschließe ich meinen Zuhörern diese manchmal sperrigen alttestamentarischen Erzählungen."

Bibelfenster ist Türöffner für Mysterium der Heiligen Schrift

Lege man grundsätzlich solche exegetischen Maßstäbe an, gelte es bei der "Entwöhnung des Isaaks" zu bedenken, dass im Altertum eine Mutter ihr Kind viel länger stillte als heute üblich und die Entwöhnung von der Muttermilch eine Zäsur darstellte, die als besonderes Ereignis gefeiert wurde, ja sogar Anlass für ein Festmahl sein konnte. Abraham richtete eine solche Feier aus, als Isaak entwöhnt wurde, heißt es im ersten Buch Mose. Die Szene an sich scheint unbedeutend, aber auch wieder so unwichtig nicht, dass sie sehr viel später von Origines  überlesen würde. Im Gegenteil: Er bewahrt sie für die Nachwelt und ordnet sie typologisch in einen allgemein verständlichen Kontext ein.

Grundsätzlich stecke eine gewaltige Bildkraft in den Erzählungen der Heiligen Schrift, die aus einer archaischen Sprachwelt schöpfe, schwärmt Domkapitular Sauerborn. "Wer nur ein wenig seine Assoziationskraft schult, hat in diesem Bibelfenster der Achskapelle einen Türöffner für das Mysterium der Heiligen Schrift und entdeckt immer noch etwas Neues", sagt er über seinen Lieblingsort im Kölner Dom. In seinen jeweiligen Bildhälften zeige dieses Fenster das Abenteuerliche, aber auch die Schönheit und Strahlkraft des Glaubens. "Man muss die Heilige Schrift hören und schmecken – auch in ihrer literarisch einzigartigen Qualität – sich manches Wort auf der Zunge zergehen lassen und es verkosten wie guten Wein. Das jedenfalls wird einem hier auf beeindruckende Weise geschenkt."

Angesichts eines solchen Gestalt gewordenen Glaubensbekenntnisses bekomme man Geschmack für das Schöne, das nicht immer das Notwendige sei, betont der Geistliche. "Glaube ist mehr als eine Heilsinformation oder notwendiges Wissen, er ist ein ganzer vielgestaltiger Kosmos, in dem ich mich mit allen Sinnen umtun darf. Und dieses Fenster öffnet einen Spalt, um in eine Welt zu schauen, die einem vorher vielleicht verschlossen war."


Das Ältere Bibelfenster in der Achskapelle von 1260 hat es Domkapitular Sauerborn besonders angetan. / © Beatrice Tomasetti (DR)
Das Ältere Bibelfenster in der Achskapelle von 1260 hat es Domkapitular Sauerborn besonders angetan. / © Beatrice Tomasetti ( DR )

Prälat Josef Sauerborn fasziniert das erste Morgenlicht, das durch das Bibelfenster fällt. / © Beatrice Tomasetti (DR)
Prälat Josef Sauerborn fasziniert das erste Morgenlicht, das durch das Bibelfenster fällt. / © Beatrice Tomasetti ( DR )
Quelle:
DR