Auseinandersetzung mit dem Klangraum Kölner Dom

Großes Domkonzert ist neuer Musik gewidmet

In der Reihe "Geistliche Musik am Dreikönigenschrein" bietet der Klangraum Kölner Dom am Freitag wieder einen besonderen Hörgenuss. Die Oper "Neither" von Morton Feldman und eine Uraufführung von Lisa Streich stehen dabei im Fokus.

Vokalensemble Kölner Dom vor Corona / © Beatrice Tomasetti (DR)
Vokalensemble Kölner Dom vor Corona / © Beatrice Tomasetti ( DR )

DOMRADIO.DE: Die Oper "Neither" von Morton Feldman unter der Leitung von Gürzenich-Kapellmeister Francois-Xavier Roth und das Auftragswerk "Predella" der deutsch-schwedischen Komponistin Lisa Streich mit dem Vokalensemble Kölner Dom unter der Leitung von Domkapellmeister Eberhard Metternich stehen im Zentrum des "Großen Domkonzertes" am 25. Mai. In der langen Geschichte des "Großen Domkonzertes", die als Kooperation zwischen dem Gürzenich-Orchester Köln, seinem damaligen Kapellmeister Markus Stenz und Ihnen begründet wurde, ging es bislang mehr oder weniger immer um ein traditionelles Repertoire. Im letzten Konzert noch haben wir die "Missa solemnis" von Beethoven gehört. Wie sind Sie nun auf Lisa Streich gekommen?

Eberhard Metternich (Domkapellmeister und Leiter der Kölner Dommusik): Kennengelernt haben wir uns 2013 beim Acht Brücken-Festival. Damals sollte der "Gesang der Jünglinge" von Karlheinz Stockhausen im Kölner Dom aufgeführt werden. Was zeitlebens der Wunsch des Komponisten gewesen war, nämlich die Uraufführung seines 1956 geschriebenen Werkes, das als zentral für die Entwicklung der elektronischen Musik gilt, in Kölns Kathedrale zu erleben, konnte damit zwar erst nach seinem Tod realisiert werden – ist letztlich aber vor allem dem damaligen Dompropst Norbert Feldhoff zu verdanken, der sich einer solchen Anregung gegenüber offener zeigte als seine Vorgänger. Aber da das Stück recht kurz war, bedurfte es noch einer weiteren Komposition. Ich habe mich dann für Lisa Streich stark gemacht, die mit ihrem Stück "Agnel", das wir dann mit dem Vokalensemble vom Triforium herunter gesungen haben, das Programm wunderbar ergänzte. Das Faszinierende an ihrer Musik ist die bewusste Auseinandersetzung mit dem Dom als Architektur und als Klangraum. Eine solche Beziehung zu diesem doch sehr spezifischen Raum, wie sie sich dann auch in ihrer Musik niederschlägt, ist eher selten. Und als Francois-Xavier Roth dann mit dem Impuls kam, den Einakter "Neither" aufführen zu wollen, kam mir sofort in den Sinn, einen Kompositionsauftrag an Lisa Streich zu vergeben.

DOMRADIO.DE: Frau Streich, zahlreiche Auszeichnungen und Stipendien haben Sie bislang an sehr unterschiedliche Studienorte wie Berlin, Paris, Stockholm, Salzburg und Köln geführt. Ihre Musik wird heute im europäischen Ausland genauso aufgeführt wie in Israel, den USA und Kanada. Was ist "Predella" für ein Werk?

Lisa Streich (Komponistin): "Predella", was so viel heißt wie "Stufe", ist für vier Chöre und Ensemble – ein Streichquartett, Klarinette, zwei Trompeten, drei Posaunen und mexikanische Xylophone – geschrieben. Eine meiner Vorgaben war die Mehrchörigkeit und dass diese auch in sich wieder mehrstimmigen Sängergruppen – das heißt, jeder singt im Grunde als Solist – von verschiedenen Standorten aus musizieren sollen. Das war von Anfang an die Idee. Inhaltlich habe ich dann versucht, mich analog zu "Neither" zu verhalten. Das heißt, ich schaffe zu dieser Oper, die aus weltlicher Sicht das Diesseits und Jenseits thematisiert und letztlich um die Frage kreist, was nach dem Tod gescheht, das katholische Pendant: die Darstellung vom Limbus, der Vorhölle, und vom Fegefeuer. Es geht um eine Tür zwischen diesem Leben und dem Leben nach dem Tod. Aber – wie bei Feldman auch – nicht allein darum, sondern auch um die Parallelität von beidem. Letztlich ist das Ganze sehr philosophisch.

DOMRADIO.DE: Auf welcher Textgrundlage geschieht das denn?

Streich: Es gibt keine Textzeilen, nur frei wählbare Vokale. Da ja auch die Gedanken und Vorstellungen, die sich die Menschen von diesen beiden Lebenswirklichkeiten machen, sehr persönlich sind, wollte ich meine Musik diesbezüglich so offen wie möglich lassen. Jeder Sänger entscheidet also selbst, welchem Vokal er den Vorzug gibt.

Metternich: Trotzdem ist die Partitur sehr komplex und differenziert. Ohne klare Struktur und die vielen Anhaltspunkte und Vermerke ließe sich ein solches Werk ja auch gar nicht dirigieren. Zu den Vorgaben gehört zum Beispiel eine Aufführungsdauer von genau 13 Minuten. Selbst die Bogengeschwindigkeit der Streicher ist festgelegt. Zum Glück habe ich schon einen Erfahrungswert und daher diesmal einen leichteren Zugang gefunden.

DOMRADIO.DE: Apropos Partitur: Die sieht ja nun doch etwas anders aus als die eines herkömmlichen Oratoriums…

Metternich: Sie zu lesen und zu verstehen war auch eine große Herausforderung und erforderte ein intensives Notenstudium sowie eine ganz eigene Auseinandersetzung allein mit dem ungewohnten Schriftbild. Beispielsweise besteht das Stück aus vielen Vierteltonschritten. So etwas musikalisch zu erarbeiten stellt eine ganz eigene Schwierigkeit dar. Vorgegeben ist nur das Metrum. Sichtkontakt miteinander stellen wir über zehn bis 15 Monitore im ganzen Dom her, so dass die Chöre an ihrem je zugeteilten Ort sehr selbständig agieren müssen, denn ich stehe auf der Orgelempore. Je ein Chor ist mit je einem Streichinstrument im nördlichen und südlichen Triforium platziert, einer auf der Orgelempore, begleitet von einem Cello, und ein Frauenchor hinter dem Altar, während vom Westfenster aus fünf Blechbläser spielen.

Grundsätzlich ist das Vokalensemble immer sehr offen für Neues. Und bereits nach dem ersten Probentag hatten alle viel Spaß an diesem Experiment.

DOMRADIO.DE: Haben Sie bereits eine Ahnung davon, wie das Zusammenspiel aller dieser Elemente klingen wird? Schließlich ist der Dom nicht ein x-beliebiger Konzertsaal…

Streich: Das ist ja auch für mich das Besondere. Denn natürlich ist der Dom mit seiner speziellen Akustik, aber auch seinen architektonischen Vorgaben, wie den Triforien weit über den Zuhörern, ungemein beeindruckend. Bislang höre ich alles nur in meinem Kopf. Auch für mich wird dann die erste Probe im Dom eine Überraschung sein. Es war immer schon mein Wunsch, einmal meine Musik dort aufführen zu können. So erinnere ich mich noch gut an den Beginn meines Studiums an der Kölner Musikhochschule, als ich an diesem gewaltigen Bau vorbeikam. Nun habe ich nach 2013 gleich eine zweite Chance, bei der ich jetzt umsetzen kann, was ich aus dem Erstkontakt mit dem Dom gelernt habe. Hoch virtuose Passagen sind eher nicht möglich. Große spektrale Akkorde hingegen halten länger als sechs Sekunden und eignen sich somit wunderbar. Je ruhiger es in der Kirche ist, desto länger kann man einem Klang nachhören. Aber es gibt auch die Stellen, wo alle Instrumente Sechszehntel spielen, der Frauenchor vierteltonig abwärts geht, während die Männer von unten eine Steigung aufbauen. Das ist dann so etwas wie die Reinigung im Fegefeuer…

DOMRADIO.DE: Sie haben bei "Agnel" auch auf den Eigenklang des Domes gesetzt…

Streich: In der Tat. Es gibt ein Grundrauschen, wenn der Wind durch die Türen pfeift oder die Bahnhofsgeräusche vernehmbar sind, die mich keineswegs stören, weil sie eigentlich dazu gehören. Und dann gibt es noch diese tönende Stille vom Dom, die in einer Konzertsituation besonders deutlich wird. Meine Idee war, dass sich Gesang und Stille auf gleichem Niveau annähern. Die Stille wird gewissermaßen durch den Chor amplifiziert, so dass man in die Stille hineinhören kann…

DOMRADIO.DE: "Aufgelockert" wird das zeitgenössische Programm – auch weil die Orchester-Mitglieder etwas Zeit brauchen, um wieder in die Vierung zu finden – mit einem musikalischen Gegenpol: der a cappella-Motette "Plaudite" von Renaissance-Meister Giovanni Gabrieli. Haben Sie eigentlich keine Angst vor den Reaktionen des Publikums?

Metternich: Derart alte Musik als eine aus der Zeit gefallene passt am besten zu einem solchen Gesamtvorhaben. Da bin ich Francois-Xavier Roth dankbar, dass er mit seinem Feldman-Projekt einen sehr kreativen Prozess ausgelöst hat. Die Leute kommen ja nicht wegen der Krönungsmesse, denn das Konzert ist der neuen Musik gewidmet. Dafür braucht es Offenheit. So ist "Neither" auch kein religiöses Werk, während Lisa Streich schon die Dimension des Christlichen mitberücksichtigt. Andererseits war meine Vorgabe an sie auch nicht, ein spezifisch geistliches Stück zu schreiben.

Streich: Ich umlege Akkorde, die uns vertraut sind, mit Schwebungen. Das ist bekannt und dennoch anders. Dadurch wird der Charakter eines Akkords noch sehr viel mehr angereichert. Moll klingt noch schwermütiger, Dur noch unbarmherziger. Ich benutze bekannte Nenner, die nur umgestellt werden, ein anderes Gesicht zeigen… Wenn man für den Dom komponiert, muss diese Musik auch essenziell für den Dom sein. Denn dem Dom kann man sich gar nicht entziehen. In seinem Kontext entsteht eine Gleichzeitigkeit von Jetzt-Zeit, Vergangenheit und Transzendenz, die es, denke ich, in jedem Menschen gibt. Es ist der Glaube, der den Aspekt der Jenseitigkeit vielleicht noch mehr verstärkt und im Kontrast mit dem Diesseitigen die Komplexität des Daseins einen Moment lang in seiner Gleichzeitigkeit erspüren lässt. Für mich ist es jedoch wichtig, dass dies kein Muss ist. Vielleicht fühlt sich manch einer auch eher an ein tosendes Fußballstadion im Glücksrausch erinnert. Das wäre auch schön.

DOMRADIO.DE: Herr Metternich, wie ist Ihre momentane Gefühlslage?

Metternich: Ich bin unglaublich gespannt auf dieses Konzert, weil sein Ergebnis in jedem Fall für Überraschungseffekte sorgen wird. Der Chor übt momentan noch mit der Hilfe von Apps, den jeweiligen Viertelton-Schritt zu finden. In ein paar Jahren lachen wir vielleicht darüber, dass wir uns Jahrhunderte lang allein mit Ganz- und Halbtonschritten begnügt haben.

Das Interview führte Beatrice Tomasetti.


 

Eberhard Metternich und Lisa Streich beim Partiturstudium / © Beatrice Tomasetti (DR)
Eberhard Metternich und Lisa Streich beim Partiturstudium / © Beatrice Tomasetti ( DR )
Quelle:
DR