Historiker Brechtken über die Aufarbeitung der NS-Zeit

"Wir müssen das Wissen wach halten"

Die Frage nach dem Umgang mit dem Nationalsozialismus bleibt mehr als 75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Sieg über Hitler-Deutschland aktuell. Eine Auseinandersetzung zur jüngeren deutschen Geschichte.

Zaun in Auschwitz-Birkenau / © Markus Nowak (KNA)
Zaun in Auschwitz-Birkenau / © Markus Nowak ( KNA )

KNA: Herr Professor Brechtken, ihr erster öffentlicher Termin führte die neue Kulturstaatsministerin Claudia Roth in die KZ-Gedenkstätte Buchenwald. Damit wollte sie nach eigenen Worten deutlich machen, "welche Bedeutung Erinnerungskultur hat". Ist das Politprosa oder steckt mehr dahinter?

Magnus Brechtken (Historiker, stellvertretender Direktor des Instituts für Zeitgeschichte in München): Wir haben seit einigen Jahren das Problem, dass es Menschen gibt, die wissenschaftliche Erkenntnisse ignorieren. Das sieht man in der Corona-Debatte, aber auch bei der Auseinandersetzung mit historischen Ereignissen.

Zugleich möchte etwa Björn Höcke die Erinnerungskultur um 180 Grad drehen. Wenn man ihn beim Wort nimmt, bedeutet das eine Umkehr zum Nationalsozialismus. Dagegen müssen wir uns wehren.

KNA: Was hat das mit dem Besuch von Claudia Roth in Buchenwald zu tun?

Brechtken: Wir müssen in Wissenschaft und demokratischer Öffentlichkeit jedem Versuch, die Geschichte umzuschreiben, entgegentreten. Und deswegen begrüße ich sehr, dass die neue Kulturstaatsministerin das zu ihrem Thema macht und an Orte wie Buchenwald geht, wo sich mein Kollege Jens-Christian Wagner genau mit diesem Problem auseinandersetzen muss, also mit Leuten, die die Grundlagen seiner Arbeit bestreiten.

KNA: Der 67-jährige Historiker Martin Sabrow hat unlängst in einem Interview gesagt, dass sich seit den 1980er-Jahren im Westen Deutschlands ein "der kritischen Aufklärung verpflichtetes Geschichtsdenken" durchgesetzt habe. Dies empfinde er als Leistung seiner Generation. Offenbar erodiert dieses Geschichtsdenken aber gerade.

Brechtken: Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus begann ja schon vor 1945. Vor allem in den USA und Großbritannien kam die Frage auf, warum von Deutschland in zwei Generation mehrere europäische Kriege ausgingen: Von den Reichsgründungskriegen 1864 bis 1871 über den ersten Weltkrieg bis zum zweiten.

Unmittelbar nach 1945 war diese Frage in Deutschland unwillkommen, aber präsent. Die Auseinandersetzung wurde zunächst von außen in die deutsche Gesellschaft getragen, etwa über die Nürnberger Prozesse. Auch spätere wie der gegen Adolf Eichmann in Jerusalem oder in Deutschland der Auschwitz-Prozess haben dies gefördert.

Der Massenmord an den europäischen Juden wurde nun öffentlicher diskutiert. Aber noch gab es keinen allgemein bekannten Begriff dafür. Holocaust als Wort für den Verbrechenskomplex etablierte sich erst in den 70er-Jahren.

KNA: Wie ging es in den 80er-Jahren weiter?

Brechtken: Wir sehen einerseits die Geschichtswerkstätten und viele lokale Initiativen. Andererseits entwickelte sich die Täterforschung. Ganz konkret ging es nun um die Frage, wer die Täter waren, was sie wo gemacht hatten, woher sie kamen.

In den 90er-Jahren folgte die Frage nach der Volksgemeinschaft. Wie lebten die normalen Volksgenossen in der NS-Herrschaft? Was dachten sie? Wie verhielten sie sich? Wie trugen sie das Regime? In den vergangenen 15 Jahren fragte die Behördenforschung nach Kontinuitäten und Brüchen von den 1920ern bis in die 1960er Jahre, vor allem bei den sogenannten Funktionseliten in Ministerien, Verwaltung, Justiz, Medizin, Diplomatie, Parlamenten.

KNA: Was bleibt heute noch zu tun?

Brechtken: Seit den 1920er-Jahren bekämpften Nationalsozialisten und Bolschewisten mit ihren Ideologien die Demokratie. Wir sollten uns bewusst bleiben, was seinerzeit geschah und können aus diesen Auseinandersetzungen lernen. Wir wissen, was aus den damaligen Heilsversprechen folgte. Wir müssen dieses historisch gesicherte Wissen in der Öffentlichkeit wach halten - ohne in Floskeln und in Sprechblasen abzugleiten.

KNA: Können Denkmäler und Erinnerungsorte dabei helfen?

Brechtken: Ja. Orte, in denen über Geschichte diskutiert wird, sind zentral für jede Gesellschaft. Zumal wenn dort Personen arbeiten, die wissenschaftlich informiert und pädagogisch kundig sind. Wir brauchen aber auch Konzepte für jene Menschen, deren Eltern oder Großeltern gar nicht aus Deutschland kommen.

KNA: In Berlin wird seit längerem um einen neuen Gedenkort an die Opfer der NS-Vernichtungskriege gerungen. Derzeit sieht es so aus, also ob sich die Idee des sogenannten Polen-Denkmals durchsetzt. Was halten Sie davon?

Brechtken: Der polnischen Opfer zu gedenken ist ein legitimes Anliegen. Wir sollten aber die Opfergruppen des Krieges nicht gegeneinanderstellen, sondern über die NS-Kriegführung, ihre Ziele und Folgen insgesamt sprechen. Nehmen wir beispielsweise die sowjetischen Kriegsgefangenen. Christian Streit hat über sie schon 1978 ein Buch geschrieben, "Keine Kameraden".

In der Öffentlichkeit ist ihr Schicksal aber kaum bekannt. NS-Führung und Wehrmacht wussten: Wenn wir das Land erobern, werden wir Millionen sowjetischer Soldaten gefangen nehmen. Für deren Versorgung gab es keine Vorbereitung, so dass klar war: Diese Leute sterben. Ein bewusster Massenmord. Ähnlich ist der Umgang mit anderen Gruppen. Das betrifft den gesamten Kriegsschauplatz.

KNA: Große Resonanz findet dagegen derzeit die Hohenzollern-Debatte. Nicht zuletzt wohl auch deshalb, weil Georg Friedrich Prinz von Preußen juristisch gegen einige Historiker vorging. Auffällig ist, das diese dem ehemaligen Kronprinzen, dem ältesten Sohn des letzten deutschen Kaisers Wilhelm II., und dem unmittelbaren Umfeld eine mehr oder weniger fatale Nähe zu den Nationalsozialisten bescheinigen. Hat die Debatte uns weitergebracht?

Brechtken: Auf jeden Fall. Die Diskussion hat eine ganze Reihe wichtiger Forschungsergebnisse in die Öffentlichkeit getragen. Ich nenne hier besonders das jüngste Buch von Stephan Malinowski "Die Hohenzollern und die Nazis", das Ende September erschienen ist. Es zeigt im Detail, wie führende Mitglieder der Familie Hohenzollern vor 1933 gegen Parlamentarismus und Weimarer Demokratie wirkten und welche Symbolkraft der Kronprinz und der Kaiser in Teilen der deutschen Öffentlichkeit auch danach immer noch besaßen.

KNA: Es gab aber auch Veröffentlichungen, die die Hohenzollern in der Endphase der Weimarer Republik und zu Beginn des NS-Regimes als eher randständige Figuren beschreiben.

Brechtken: Mit den verfügbaren Quellen und sichtbaren Details ist das schwerlich in Einklang zu bringen. Wer sich mit der Weimarer Republik, dem Nationalsozialismus und der Aufarbeitungsgeschichte beschäftigt hat, kann die Analysen Malinowskis plausibel einfügen. Die vielen positiven Reaktionen auf das Buch bestätigen das. Es gibt natürlich immer einige, die sich mit diesen Erkenntnissen kaum auseinandersetzen mögen. Aber wissenschaftlich ist das ein Randphänomen, wie es das zu fast allen Themen gibt.

KNA: Agenturen und Online-Portale, Zeitungen, Radio und Fernsehen sind nicht nur in diesem Fall Akteure in der Auseinandersetzung mit dem NS-Regime. Wie aber gehen die Medien mit der eigenen Vergangenheit und möglichen Kontinuitäten zur NS-Zeit um - wird da genug getan?

Brechtken: Wir können das nicht über einen Kamm scheren. Es gibt einige Pionierstudien, aber als Forschungsfeld ist da noch viel möglich. Wenn ich mir etwas wünschen dürfte: Ein Projekt zum "Spiegel" etwa mit Zugang zum Archiv, den Unterlagen zu den Karriere- und Denkwegen des Personals bis Anfang der 1970er-Jahre, so wie es viele Ministerien und öffentliche Institutionen ermöglicht haben - das wäre äußerst reizvoll.

Das Interview führte Joachim Heinz.


Quelle:
KNA
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