Misereor blickt auf die aktuelle Lage in Afghanistan

"Lage von Provinz zu Provinz unterschiedlich"

Wie geht es weiter in Afghanistan? Während die EU um ihre Haltung zur Aufnahme von Flüchtlingen ringt, stehen viele Einwohner des Landes vor einer ungewissen Zukunft. Nachfrage bei Elisabeth Bially, Leiterin der Asien-Abteilung bei Misereor.

Kämpfer der Taliban / © Khwaja Tawfiq Sediqi (dpa)
Kämpfer der Taliban / © Khwaja Tawfiq Sediqi ( dpa )

KNA: Außenminister Maas zeigt sich zuversichtlich, dass die in Afghanistan verbliebenen Ortskräfte und Deutschen, die das Land verlassen wollen, ausreisen können. Wie sehen Sie das?

Elisabeth Bially (Leiterin der Asien-Abteilung bei Misereor): Natürlich muss weiterhin alles unternommen werden, um die Ortskräfte zu evakuieren. Ob die bisherigen Vorschläge - Aufnahme des zivilen Flugverkehrs und/oder Ausreise über Nachbarländer - zeitnahe realistische Lösungen sind, ist fraglich. Offen sind auch aktuell überlebenswichtige Fragen wie: Was machen die Ortskräfte, bis ihnen Optionen zur Ausreise angeboten werden? Wo können sie sich aktuell sicher aufhalten?

Solange noch der Bankverkehr nicht oder nur eingeschränkt funktioniert, ist auch die Ausstattung der Ortskräfte mit Barmitteln problematisch. Dies gilt ebenso für die Projektmitarbeiter und -mitarbeiterinnen, die auf Auszahlung ihres Gehalts warten - in einer Situation, in der Lebensmittelpreise explodieren.

KNA: Der Militäreinsatz ist offiziell beendet - hat das irgendwelche Konsequenzen für die Arbeit von Misereor beziehungsweise deren Partner?

Bially: Bislang läuft die Arbeit in den von Misereor unterstützen Projekten - auch nach Abzug der Militärkräfte - weiter, mancherorts modifiziert. Insbesondere in den Gesundheitseinrichtungen wie den Krankenhäusern kann ungehindert gearbeitet werden. Mit Blick auf die Frauencenter, die Misereor in verschiedenen Regionen fördert, gibt es in einer Region mit den örtlichen Taliban-Kommandanturen abgestimmte Vorgaben. So dürfen Frauen nur noch von weiblichen Lehrkräften unterrichtet werden.

KNA: Wie würden Sie die aktuelle Stimmung umschreiben?

Bially: Es herrscht insgesamt ein Klima der extremen Verunsicherung und Angst, das dazu führt, dass viele Frauen das Haus nicht mehr verlassen. Dass diese Angst nicht unberechtigt ist, belegen Fälle von Durchsuchungen, Zwangsverheiratungen und anderes mehr. Das Misstrauen gegenüber beschwichtigenden Aussagen der Taliban ist groß - sie werden an ihren Taten, nicht an ihren Worten gemessen. Mit Blick auf die zu Ende gehenden Schulferien stellen sich Fragen, unter welchen Vorgaben oder Bedingungen der Taliban der Unterricht wieder aufgenommen werden kann, wer die staatlichen Lehrkräfte bezahlt und vieles mehr.

Soweit technisch möglich, haben Projektpartner auch Kurse und Trainings auf digitale Verfahren umgestellt. Bei jeder Betrachtung muss dem Umstand Rechnung getragen werden, dass die Situation von Provinz zu Provinz unterschiedlich ist und wir uns - auf Grundlage der Rückmeldungen unserer Projektträger - ein Bild der Situation im Land wie ein Puzzle zusammensetzen.

KNA: Gibt es Flüchtlingsbewegungen Richtung Nachbarstaaten?

Bially: Es ist bekannt, dass circa vier Millionen Menschen auf der Flucht sind. In welche Richtung sich die Flüchtigen bewegen, wird davon abhängen, ob entsprechende Abkommen mit den Regierungen der Nachbarstaaten getroffen werden können und auch, wie sich Europa in der Flüchtlingsfrage verhält.

KNA: Wie bewerten Sie die Debatte in der EU um die Aufnahme von Flüchtlingen beziehungsweise die Ergebnisse der EU-Innenministerkonferenz?

Bially: Der Westen und damit auch die EU tragen eine Mitverantwortung für die Menschen in Afghanistan. Die jüngste Einigung der EU-Innenminister auf schnellstmögliche Festlegung einer Definition, wer zu denjenigen gehört, die ein Aufnahmerecht bekommen, ist eine unzureichende Maßnahme.

Das Interview führte Joachim Heinz.


Quelle:
KNA
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