Vor 75 Jahren legte die EKD die Stuttgarter Schulderklärung vor

Bekenntnis im Komparativ

Sie war nicht für die Öffentlichkeit bestimmt und löste nach Bekanntwerden einen Entrüstungssturm aus: Die Stuttgarter Schulderklärung der Protestanten war ein erster Schritt zur Aufarbeitung der Nazi-Vergangenheit.

Autor/in:
Norbert Zonker
Blick auf die Markuskirche in Stuttgart / © Klaus Ulrich Mueller (shutterstock)
Blick auf die Markuskirche in Stuttgart / © Klaus Ulrich Mueller ( shutterstock )

Am 27. Oktober 1945 berichtete der "Kieler Kurier", die in Schleswig-Holstein am weitesten verbreitete Zeitung der britischen Militärregierung, auf Seite eins über eine Erklärung des neu gebildeten Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Unter der Überschrift "Schuld für endlose Leiden" hieß es: "Evangelische Kirche bekennt Deutschlands Kriegsschuld. Zum ersten Male haben führende Männer der Deutschen Evangelischen Kirche Deutschlands Kriegsschuld bekannt, von gemeinsamer Schuld für endlose Leiden gesprochen und von dem Mangel an mutigem Widerstand durch die Kirche gegen das NS-Regime."

Der Bericht löste eine Fülle von wütenden Zuschriften aus - heute würde man von Shitstorm sprechen - zumal die darin hervorgehobene Kernaussage in der eine Woche vorher verfassten Stuttgarter Schulderklärung gar nicht stand. Die Kirche hatte den Text nicht veröffentlicht, schon gar keine einordnende Pressemitteilung dazu, denn die eigentlichen Adressaten waren hochrangige Kirchenvertreter aus Ländern, gegen die Deutschland Krieg geführt hatte.

Offenkundige Lücken im Text

Ohne diese Umstände zu kennen, erscheint das Dokument aus heutiger Sicht eher zaghaft. "Mit großem Schmerz sagen wir: Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden. Was wir unseren Gemeinden oft bezeugt haben, das sprechen wir jetzt im Namen der ganzen Kirche aus: Wohl haben wir lange Jahre hindurch im Namen Jesu Christi gegen den Geist gekämpft, der im nationalsozialistischen Gewaltregiment seinen furchtbaren Ausdruck gefunden hat; aber wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben."

Ein Bekenntnis im Komparativ ohne ein Wort zu den Hitler-treuen "Deutschen Christen" und dem "Kirchenkampf" der Minderheit der "Bekennenden Kirche", Schweigen über das "Entjudungsinstitut" in Eisenach, das ein von seinen jüdischen Wurzeln abgekoppeltes Christentum propagierte, und nichts zum Holocaust - die Lücken im Text sind offenkundig.

Katholische Bischöfe verfassten Hirtenwort

Aber mehr war wohl fünf Monate nach Kriegsende nicht sagbar, zumal die zwölf Ratsmitglieder, die den Text unterschrieben, keineswegs einmütig waren. Den einen ging der Kompromiss zu weit, den anderen nicht weit genug.

Auch die katholischen Bischöfe hatten sich in einem Hirtenwort vom 23. August 1945 vor konkreteren Aussagen gedrückt. "Furchtbares ist schon vor dem Kriege in Deutschland und während des Krieges durch Deutsche in den besetzten Ländern geschehen", schrieben sie ohne Nennung von Details. Und weiter: "Viele Deutsche, auch aus unseren Reihen, haben sich von den falschen Lehren des Nationalsozialismus betören lassen."

Erklärung sollte Tür in ökumenische Zukunft öffnen

Der am 31. August in Treysa gebildete EKD-Rat stand unter dem Erwartungsdruck aus der protestantischen Ökumene, als Vorbedingung für die Aufnahme von Beziehungen und Hilfen ein Schuldbekenntnis abzulegen. Dies geschah bei der zweiten Sitzung des Gremiums am 18. und 19. Oktober zunächst in Form persönlicher Erklärungen der Ratsmitglieder Hans Asmussen (1898-1968), Martin Niemöller (1892-1984) und Wilhelm Niesel (1903-1988), die alle aus der "Bekennenden Kirche" kamen. Die schriftliche Erklärung folgte einem Entwurf von Otto Dibelius (1880-1967), in den Sätze Asmussens und Niemöllers eingefügt wurden. Der Text wurde Ökumene-Vertretern schriftlich übergeben und nicht etwa, wie es heute üblich wäre, in einem Gottesdienst vorgetragen.

Die Erklärung erfüllte ihren Zweck, der neuen EKD die Tür in eine ökumenische Zukunft zu öffnen. Innerkirchlich war und blieb sie lange umstritten. Von den damals 28 Landeskirchen machten sich nur vier - Baden, Hannover, Rheinland und Westfalen - den Text ausdrücklich zu eigen, selbst einige der Unterzeichner distanzierten sich.

Dennoch erwies sich das Stuttgarter Papier als erster Schritt zur Aufarbeitung der Schuld der Deutschen und der Verstrickung der Kirche mit dem Regime. Schon wesentlich deutlicher war dann das "Darmstädter Wort" von 1947 des aus der "Bekennenden Kirche" hervorgegangenen "Bruderrats". Für den späteren Bundespräsidenten Gustav Heinemann, einen Unterzeichner des Stuttgarter Schuldbekenntnisses, blieb sie aber "Dreh- und Angelpunkt".


Quelle:
KNA