Vor 75 Jahren verabschiedet: die Charta der Vereinten Nationen

Papiertiger oder einzige Chance der Menschheit?

Die Kritik an politischen Organisationen auf Weltebene ist so alt wie die Idee, sie überhaupt zu schaffen. Papiertiger seien sie, ineffizient und uneins. Doch wo sind die Alternativen zu UNO und Haager Gerichtshof?

Autor/in:
Alexander Brüggemann
Die Flagge der Vereinten Nationen / © Alexandros Michailidis (shutterstock)
Die Flagge der Vereinten Nationen / © Alexandros Michailidis ( shutterstock )

John Bolton, Kurzzeit-Sicherheitsberater von Präsident Donald Trump und unter George W. Bush Botschafter der USA bei der UNO, spottete einst, wenn man am Sitz der Organisation der Vereinten Nationen am New Yorker East River 10 der 39 Stockwerke abnähme, würde das überhaupt niemand merken. Solche Verachtung gegenüber dem Multilateralismus spricht derzeit aus jeder Pore der US-Außen- und Handelspolitik.

Trump aus Organisationen und Verträgen ausgestiegen

Trump ist mit seiner America first"-Politik aus ungezählten multinationalen Organisationen und Verträgen ausgestiegen: Pariser Klimaabkommen, Unesco, Haager Gerichtshof, Abrüstungsabkommen mit Russland, Atomabkommen mit dem Iran. Zuletzt kündigte er im Zuge der Corona-Pandemie der Weltgesundheitsorganisation WHO die Zusammenarbeit auf.

Es ist dieselbe Haltung, die einst die europäischen Großmächte dem Multilateralismus entgegenbrachten, als ihn vor gut 100 Jahren nämliche USA auf der Weltbühne zu etablieren versuchten. Damals, 1919, pfropfte ein US-Präsident, Woodrow Wilson, den unwilligen Großmächten Europas ein längst verschüttetes Instrument auf: miteinander im Gespräch zu bleiben, um Konflikte möglichst im Vorfeld zu entschärfen.

Am 26. Juni 1945 wurde die Charta der Vereinigten Nationen unterzeichnet

Und auch vor 75 Jahren, als am 26. Juni 1945 in San Francisco 50 Gründungsnationen die Charta der Vereinten Nationen unterzeichneten, saß mit Harry Truman ein US-Präsident am Tisch. Da war der Zweite Weltkrieg im Pazifik noch gar nicht beendet - und die Vorgängerorganisation, der Völkerbund in Genf (1920-1946), noch gar nicht aufgelöst.

Dessen Ziele waren gewesen, zwischenstaatliche Konflikte durch Schiedsgerichte beizulegen und Abrüstung und kollektive Sicherheit zu gewährleisten. "Eigentlich eine gute Idee, aber...", so pflegt man angesichts solch grandiosen Scheiterns leichthin zu sagen. Nach dem erschütternden Ersten Weltkrieg mit seinem Giftgas, seinen Abnutzungsschlachten und 17 Millionen Toten wollte die internationale Gemeinschaft 1918/19 ein Zeichen setzen: Nie mehr so ein Blutbad! Keine 20 Jahre später begann der Zweite Weltkrieg - mit diesmal 60 Millionen Toten.

Idee einer "Staatengemeinschaft" schon über 400 Jahre alt

Die Idee einer "Staatengemeinschaft" mit einem gemeinsamen "Völkerrecht" ist schon mindestens 400 Jahre alt, gedacht beziehungsweise formuliert 1625 von dem niederländischen Juristen Hugo Grotius; frühe Instrumente wie die antike «Pax Romana» oder der mittelalterliche Reichsgedanke mit den gerechten Zwei Schwertern noch gar nicht eingepreist.

Doch eigentlich war die von US-Präsident Wilson reimportierte Idee dem damaligen Europa der Nationalstaaten denkbar fremd. Hier redeten die Großmächte nicht regelmäßig miteinander, schon gar nicht ständig oder gar mit kleineren, nicht satisfaktionsfähigen Ländern. Man handelte - und zwar ganz nach eigenen Interessen. Und so klappte die Sache auch nicht; man fremdelte mit sich selbst. Von "merkwürdiger Verschlingung" staatlicher Souveränität und "in der Luft hängender" und "überhöhender Organisation der Menschheit" war die Rede.

Neubeginn der Vereinten Nationen nach dem Zweiten Weltkrieg

Dem neuerlichen moralischen Bankrott des Zweiten Weltkriegs folgte nun also der Neubeginn in den Vereinten Nationen - und im beginnenden sogenannten Kalten Krieg zwischen Ostblock und Westen und ihren jeweiligen, oft postkolonialen Satellitenstaaten. Israel wurde 1949 Mitglied, Österreich 1955, die kommunistische Volksrepublik China erst 1971, die Bundesrepublik und die DDR 1973. Symbol der Vereinten Nationen ist - neben ihrer blauen Flagge mit Erdkugel und Olivenzweigen - das 1951 vollendete Hauptquartier am New Yorker East River, für das der US-Milliardär John D. Rockefeller das Grundstück und die Stararchitekten Le Corbusier und Oscar Niemeyer die Architektur lieferten.

"Nie wieder Krieg" hat auch seither schlicht nicht stattgefunden - und die UNO mit ihren Blauhelm-"Friedenssoldaten" mehr als einmal eine klägliche Rolle gespielt; nicht nur bei den Massakern in Ruanda 1994 und im bosnischen Srebrenica 1995. Doch angesichts all der Hunger- und Flüchtlingskrisen, des Klimawandels, regionaler Konflikte, Seuchen und Epidemien: Wer hätte 2020 - bei allen Defiziten der bestehenden Strukturen - bessere Vorschläge zur Bewältigung globaler Probleme als ein möglichst großes Einvernehmen ihrer 193 Mitgliedstaaten? Die Vorzeichen von einst scheinen heute freilich umgekehrt.

US-Regierung lässt erzielte Kompromisse ins Leere laufen

Europas "Großmächte" Frankreich, Deutschland, mit Abstrichen Großbritannien, spielen heute international - leise, aber immerhin - auf genau dieser Klaviatur - während die amtierende US-Regierung kaum eine Chance auslässt, bereits erzielte Kompromisse zu unterminieren und ins Leere laufen zu lassen; von Wladimir Putins Russland, Jair Bolsonaros Brasilien und dem stets profitierenden Giganten China ganz zu schweigen. Was hätten sich wohl die US-Präsidenten Wilson und Trump 2020 in einem TV-Duell über die Außenpolitik im nun begonnenen Jahrzehnt zu sagen?

UNO-Generalsekretär muss ständig vermitteln

UNO-Generalsekretär zu sein, zählt wohl zu den unmöglichsten und frustrierendsten Jobs der Welt. Als Hütehund die auseinander strebenden Nationen beieinander zu halten und zu gültigen Beschlüssen auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner zu bewegen, noch dazu kurzgehalten an der finanziellen Leine der Großmächte: Dieser ständige Spagat tut zwangsläufig selbst dem Geschmeidigsten weh.

Echte moralische Autorität konnten da - bei allem Bemühen - nur wenige ausstrahlen; so vor allem der Schwede Dag Hammarskjöld (1953-1961) oder der Ghanaer Kofi Annan (1997-2006). Annan erhielt 2001 den Friedensnobelpreis - zu Beginn des dritten Jahrtausends wohl auch stellvertretend für die so hilf- wie alternativlose Idee der "Vereinten Nationen" insgesamt.


Quelle:
KNA
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