Stadtdekan von Stuttgart sucht nach Erklärungen

Mit Alkohol im Gepäck "die Sau rauslassen"

Nach den Ausschreitungen in Stuttgart suchen Politiker auf Stadt- und Landesebene nach Erklärungen. Der Stadtdekan von Stuttgart ist noch fassungslos, sagt aber auch, dass es ein gewachsenes Problem ist, das jedes Wochenende auftritt.

Nach Randalen in Stuttgart / © Marijan Murat (dpa)
Nach Randalen in Stuttgart / © Marijan Murat ( dpa )

DOMRADIO.DE: Zerschlagene Schaufensterscheiben, geplünderte Einkaufsläden, herumfliegende Waren in der Fußgängerzone und auf den Straßen - so sah das aus in der Nacht zum Sonntag nach den Krawallen in Stuttgart, bei denen 19 Polizisten verletzt wurden. Das Ausmaß der Gewalt, die angewendet wurde, war erschreckend. 400 bis 500 Menschen waren an diesen Krawallen beteiligt, 24 wurden vorläufig festgenommen. Mittendrin in der Stuttgarter Innenstadt steht das Haus der katholischen Kirche. Wie sieht es bei Ihnen jetzt aus?

Monsignore Christian Hermes (Stadtdekan von Stuttgart): Die Stadtreinigung rast hier an jedem Wochenende ganz früh morgens durch, um die ganzen Partymüllreste aufzulesen. Nach den Ausschreitungen waren am nächsten Morgen dann schon um 9 Uhr wieder Menschen hier im Schlossgarten und saßen in der Sonne auf der Bank. Um die erheblichen Zerstörungen zu sehen, muss man an ganz bestimmte Stellen gehen. Was ich bedrückend fand: Eine Blutspur durchzog die ganze Königsstraße, wo offenbar jemand schwer verletzt worden war. Aber es war dann relativ schnell das Nötigste wieder instandgesetzt. Aber in der Nacht sah es, wie man auf den Bildern sehen kann, sehr schrecklich aus.

DOMRADIO.DE: Wir sehen die Bilder in den Medien. Sie wohnen da mittendrin. Haben Sie das direkt mitgekriegt?

Hermes: Wir haben seit vielen Jahren hier diese Partyszene. Manche sagen, es hat nach der letzten Fußball-WM angefangen. Das war so eine Art Durchbruch für den Schlossgarten, der sich zum Party-Hotspot für die ganze Region entwickelt hat. Man fährt mit Alkohol im Gepäck nach Stuttgart, um hier die Sau rauszulassen, wenn ich das mal so sagen darf. Wir haben hier eine unglaubliche Vermüllung. Die Stadtreinigung holt jedes Wochenende über elf Tonnen Müll aus dem öffentlichen Raum. Aber auch eine Rücksichtslosigkeit im Umgang und in Bezug auf Lärm und Pöbeleien. Die Polizei berichtet von einer zunehmend erschreckenden Respektlosigkeit vor allem von halbstarken oder jungen Männern, die oft auch sehr gut trainiert sind, martialisch auftreten und zeigen wollen, wer der Herr der Straße ist.

DOMRADIO.DE: Hätten Sie sich gewünscht, dass man vorab schon mal guckt, was man dagegen tun kann?

Hermes: Ich möchte ausdrücklich sagen, dass niemand diesen Ausbruch oder Exzess an Gewalt so hätte erwarten können. Wir sind alle unglaublich betroffen und schockiert darüber, was in unserer Stadt passiert ist, dass so schnell alle Hemmungen fallen. Die Polizei ist immer wieder provoziert worden. Da gab es ein ganzes Bündel an Faktoren, die da hineinspielten. Sei es, dass man jetzt irgendwelche Bilder aus den USA gesehen hat, dass auch von politischer Seite die Polizei schlecht geredet wird. Man muss sagen, die Polizei ist in Stuttgart, das weiß ich aus vielen Gesprächen, deeskalierend vorgegangen. Sie steht nicht für eine konfrontative Polizeitaktik, sondern eine wirklich sehr bürgernahe und bürgerfreundliche. Das hat man gerade in der Corona-Zeit auch gemerkt.

Aber das sind eben junge Leute, die eine Macho- und so eine Gangster-Kultur im Kopf haben. Übrigens egal, woher sie kommen. Die sich da ein Duell oder so ein Scharmützel liefern wollen. Die Polizei berichtet, dass schon ganz normale Kontrollmaßnahmen regelmäßig dazu führen, dass sich irgendwelche Leute gegen die Polizei solidarisieren. Darüber muss man sich Gedanken machen, wie man das einfangen kann.

DOMRADIO.DE: Normalerweise ist Solidarität eine schöne Sache, in diesem Fall weniger. Gleichzeitig soll es viele Menschen gegeben haben, die einfach zugeschaut haben. Wie erklären Sie sich den Voyeurismus?

Hermes: Das hängt sicher mit dem Phänomen des Posens in den sozialen Medien zusammen. Wir haben hier in Stuttgart die Raser- und Poser-Szene. Aus der Bürgergesellschaft kommen seit vielen Jahren Beschwerden, aber es musste erst zu einem schweren Zwischenfall kommen, bevor die Stadt reagiert hat. Wir haben diese martialischen Poser, die da ihre Männlichkeit ausstellen. Das sind ja zum Teil noch Minderjährige oder junge Erwachsene, die da als betrunkene Männer außer Rand und Band durch die Stadt gezogen sind, die damit Mädchen beeindrucken wollen oder sich ganz gezielt dabei filmen lassen. Für die Ermittlungen ist das natürlich nützlich, dass sie die Videos in sozialen Medien geteilt haben.

Das gehört zu dem Phänomen dazu, beispielsweise Polizisten beim Einsatz zu filmen und es dann ins Netz zu stellen. Dafür wird man eine kluge Strategie finden müssen, die nicht nur in polizeilicher Taktik oder in Repression bestehen kann. Das muss in Stuttgart jetzt mal verstanden werden. Wir brauchen eine neue Ordnungs- und Sicherheitspolitik hier in der Innenstadt. Man kann das nicht alles so laufen lassen. Tausende feierwütige junge Menschen mit viel Alkohol. Das ist eine explosive Mischung. Ich hoffe, dass jetzt durch Streetworker, durch sozialarbeiterische Maßnahmen und darüber hinaus, mal gefragt wird, welche Erziehung diese Leute genossen haben und welche Rollenbilder sie im Kopf haben.

DOMRADIO.DE: Was kann die Kirche tun?

Hermes: Unsere Möglichkeiten sind begrenzt. Das muss man ganz klar sehen, weil wir uns fragen müssen, wen wir erreichen. Wir haben hier in Stuttgart ein ganz großartiges Netzwerk von mobiler Jugendarbeit, bei dem wir mit der evangelischen Kirche zusammen und natürlich in enger Abstimmung mit der Stadt Streetworking betreiben. Seit Jahren diskutieren wir mit der Stadt über das Thema Sicherheit. Mit der Partyszene haben wir die Erfahrung gemacht, dass wir über Streetworking eher die Jüngeren noch erreichen können. Aber wenn jetzt, ich sage mal, so bullige Halbstarke - "Looking for Trouble" - durch die Stadt ziehen und sich betrinken, sind dem Streetworking auch Grenzen gesetzt.

Das Interview führte Uta Vorbrodt.


Randale und Plünderungen in Stuttgart / © Silas Stein (dpa)
Randale und Plünderungen in Stuttgart / © Silas Stein ( dpa )

Nach Randalen in Stuttgart: Einsatzwagen der Polizei / © Marijan Murat (dpa)
Nach Randalen in Stuttgart: Einsatzwagen der Polizei / © Marijan Murat ( dpa )
Quelle:
DR