Zum Tod von Norbert Blüm

"Herz-Jesu-Marxist" mit Blick für die kleinen Leute

Der früherer Bundesarbeitsminister Norbert Blüm ist tot. Als Christ und Katholik betrachtete er die Probleme "von unten". Sein Auftreten brachte ihm den Spitznamen "Herz-Jesu-Marxist" ein - immer der katholischen Soziallehre verpflichtet.

Trauer um Norbert Blüm / © Elisabeth Schomaker (KNA)
Trauer um Norbert Blüm / © Elisabeth Schomaker ( KNA )

DOMRADIO.DE: Als was für einen Menschen haben Sie Norbert Blüm erlebt?

Professor Peter Schallenberg (Direktor der katholischen sozialwissenschaftlichen Zentralstelle in Mönchengladbach): Ich habe ihn hauptsächlich in der Kommende in Dortmund, im Sozialen Institut des Erzbistums Paderborn erlebt. Dort habe ich ihn kennengelernt und quasi von meinem Vorgänger, Reinhard Marx, übernommen, der dort vor mir Direktor gewesen ist und ihn sehr gut kannte. Marx kannte ihn durch die Sozialausschüsse der CDU noch viel besser als ich.

Ich habe ihn als einen sehr aufgeschlossenen und unkomplizierten Menschen ohne Attitüde, Überheblichkeit und Abgehobenheit wahrgenommen. Er war immer zu einem Gespräch bereit, immer an der Sache und an den Problemen interessiert. Ich habe ihn rund um als sehr angenehm wahrgenommen.

DOMRADIO.DE: Norbert Blüm hatte den Spitznamen "Herz-Jesu-Marxist". Warum?

Schallenberg: Ja, das ist interessant. Er empfand sich als einen Praktiker, als einen Menschen, der als Theologe, Christ und Katholik auf die Probleme der Industrialisierung und des nachindustriellen Zeitalters schaute. Und das tat er mit einem Blick von unten. Er kam aus der Arbeiterklasse und der CDA, der Arbeitnehmervereinigung der CDU.

"Herz-Jesu-Marxist" wurde er wohl genannt, weil er immer eher den Blick auf die kleinen Leute, wie er das ausdrückte, auf die Schwächeren und die Benachteiligten hatte. Er wendete sich immer sehr stark gegen den Bonzen-Kapitalismus oder einen Kapitalismus amerikanischer Prägung. Das tat er zum Teil auch sehr polemisch und scharf und sagte, dass dieser Kapitalismus genau das ist, was die soziale Marktwirtschaft nicht will. Diese gehe davon aus, dass ein Markt die Schwächeren und die Benachteiligten sehr schnell aus dem Blick verliere.

Deswegen müsse ein starker Sozialstaat dafür sorgen, dass das Soziale in den Vordergrund gerückt werde. Wegen dieser Einstellung hat man Norbert Blüm diesen Spitznamen "Herz-Jesu-Marxist" gegeben. Weil er vielleicht manche Dinge ähnlich gesehen hat wie Karl Marx in der Zeit der Industrialisierung, als die Arbeiter geknechtet, unterdrückt und an den Rand gedrängt waren.

DOMRADIO.DE: Norbert Blüm hat sich der katholischen Soziallehre verbunden gefühlt und sich in Diskussionen eingebracht. Inwieweit hat sein katholischer Glaube sein Handeln als Politiker beeinflusst?

Schallenberg: Er war eben sehr stark von Oswald von Nell-Breuning beeinflusst. Blüms Sicht auf das Soziale in der Marktwirtschaft und auf einen starken Sozialstaat hat ihn geprägt. Das zeigt sich auch nochmal in seinem sehr bewussten und für meine Begriffe ganz exzellenten Eintreten für die Pflegeversicherung, die ja damals überhaupt nicht unumstritten war und wofür er heftig angefeindet wurde.

Kritiker sagten, jetzt greife der Staat auch noch in das Intimste, in die Pflege, in die familiäre Pflege ein. Norbert Blüm machte aber immer deutlich - ich kann mich an manche Diskussionen mit ihm und Wortbeiträge von ihm erinnern -, dass die Pflegeversicherung eine notwendige neue Säule ist, bei der der Staat eingreifen muss, weil in der Pflege ein ganz neues soziales Elend entsteht.

Das hat er als Katholik und als Christ immer mit dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter verbunden, mit dem er deutlich machte, dass es nicht darum geht, erst dann Hilfe zu leisten, wenn jemand im Straßengraben liegt, sondern Prävention zu leisten und zu verhindern, dass überhaupt jemand in den Straßengraben hineingerät. Das ist der beste Sozialstaat, der die Leute so befähigt, dass sie nach Möglichkeit überhaupt nicht im Straßengraben landen. Oder wir würden heute sagen, dass sie inkludiert sind und nicht in der Exklusion und außerhalb der Gesellschaft landen.

DOMRADIO.DE: Norbert Blüm gehörte als überzeugter Katholik seiner Generation zu den authentischen Politikern. Ist das eine aussterbende Generation von Politikern, die überzeugt aus ihrem katholischen Glauben heraus leben und handeln?

Schallenberg: Das ist eine sehr schwierige Frage, da müsste man alle kennen, um das beurteilen zu können. Ich würde mal sagen, das hängt auch immer von persönlichen Erfahrungen ab. Ich kenne eine ganze Menge von überzeugten Christen in der Politik und das freut mich immer sehr. Ich denke, Karl-Josef Laumann in Nordrhein-Westfalen ist so ein Mensch, den ich auch sehr schätze, der auch in ähnlicher Weise wie Norbert Blüm aus der Arbeitnehmerbewegung kommt und den Blick von unten hat.

Ich habe nicht den Eindruck, dass solche Politiker weniger werden. Vielleicht sind sie weniger sichtbar, und insgesamt ist vielleicht die Stimme der katholischen Soziallehre nicht mehr so deutlich wie in den 1950er und 1960er Jahren, in der angeblich so guten alten Adenauer-Zeit. Ich habe den Eindruck, dass es sehr viele überzeugte Christen in der Politik gibt, übrigens in unterschiedlichen Parteien. Und das freut mich immer.

DOMRADIO.DE: Was bleibt vom Vermächtnis Norbert Blüms?

Schallenberg: Auf jeden Fall wird zweierlei bleiben: Erstens, dass die schönste Theorie sich in der Praxis bewähren muss und dass es dann interessant wird, wenn es konkret wird. In der Theorie kann man sich einig sein, dass Solidarität, soziale Gerechtigkeit und Personalität gut sind. Das sind häufig Begriffe, da kann man sich schnell darüber einigen. Aber dann, wenn es konkret wird, ob eine Pflegeversicherung kommen, welcher Beitragssatz gelten oder welche Einschränkungen es geben soll, zeigt sich, ob sich die Theorie in der Praxis bewährt.

Diese Diskussion werden wir auch in den nächsten Monaten und Jahren haben. Was wollen wir uns das Gesundheitswesen kosten lassen? Wo sparen wir was an anderer Stelle? Konkret muss es sein, das war für Norbert Blüm immer sehr wichtig und deutlich. Und das wird bleiben.

Zweitens: Dass Leute den Mut haben zu sagen: Ich bin Christ, ich glaube an Jesus Christus, ich glaube an die Botschaft des Evangeliums. Und aus diesem Glauben heraus will ich Politik gestalten. Also nochmal die Verbindung von Christentum und Politik.

Das Interview führte Hilde Regeniter.


Prof. Peter Schallenberg / © Harald Oppitz (KNA)
Prof. Peter Schallenberg / © Harald Oppitz ( KNA )
Quelle:
DR
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